Aachener Untergrund Kultur

28. Dezember 2013

Volksboiler – DAC Kassette

Filed under: 1982, Aachen in den 80ern, Aachener Bands, DAC — karl pach @ 10:02 am

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Ergänzend zu Dieter Antonios vorhergegangenem Artikelmarathon nun die Kassette, der von Szene-Ingrid besprochenen Band Volksboiler. Die DAC Kassetten lagen seinerzeit tatsächlich in politisch orientierten Läden wie z. B. Babula aus. Da legte man für das Tape auch gerne, politisch korrekt, mehr aus als eine aktuelle LP kostete. Zusätzlich erfreute sich das Coverbild der Veröffentlichung, in Inkarnation eines Aufklebers großer Beliebtheit. Das Aufkleben selbigens auf den eigenen Boiler (Warmwasserbereiter), in Bad oder Küche,  bürgerte sich als kleiner WG-Klassiker ein.

Hier als Download im schicken MP3 Format:

Seite 1: http://www.file-upload.net/download-8452139/seite_1.mp3.html

Seite 2: http://www.file-upload.net/download-8452164/seite_2.mp3.html

25. Dezember 2013

Einblicke, Folge 4: „Ex“ und „Volksboiler“

Einblicke - Buchcover

Kein Entrinnen vor den Einblicken des Soziologenteams um Ingrid Peinhardt-Franke – weder für die Aachener Subkulturen im Jahr ’82/83, noch für unsere Blog-Leser dreißig Jahre später!

Im nun folgenden Kapitel nahm man sich die Aachener Bands Ex und Volksboiler aufs knallhart ideologiekritische Korn. (Wir vermuten, dass die Wahl auf diese so verschiedenen Bands nur deshalb fiel, weil sie zum Line-up des DAC-Labels gehörten. DAC-Cassetten lagen damals auch in Politbuchläden wie Babula aus, im Gegensatz zu den Produkten anderer Aachener Cassettenlabels wie Reinfall und SMC.)

Text ab (hier auch als PDF):


Rockmusik — Kommerzielle Populärkultur oder Ausdrucksmedium subkultureller Opposition?

Hardy Delnui, Jutta Stieler

"Im musikalischen Rahmen finden keine Revolutionen statt. Auch keine musikalischen."1

Rockmusik ist bekanntlich — auch wenn sie es ab und an vorgibt — nicht ein Ausdrucksmittel des Protests, das etwa tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen bewirken könnte, sie kann allenfalls als ein Spiegel fungieren, da sie aus Sicht der Subkulturen und des "Underground"‚ jener Welt, in der die Rockmusik beheimatet ist, als eine Art Seismograph den Zustand der Gesellschaft anzeigen, gegen die sie sich wendet, von der sie (nicht immer!) geduldet und schließlich — aus noch zu nennenden Gründen — vereinnahmt wurde und wird.

"Musik als Ausdrucksmittel..." ['Einblicke', S. 243]

„Musik als Ausdrucksmittel…“ [‚Einblicke‘, S. 243]

Die Geschichte der Rockmusik ist eine Geschichte subkultureller und teils auch modeorientierter Jugendtrends — wobei man modische und subkulturelle Trends nicht gegeneinander ausgrenzen kann — und sie vollzog sich analog zur Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft in Zusammenhang mit der zunehmenden Trennung von Produktion und Konsumtion, von Freizeit und Arbeit und der Ausweitung des unproduktiven Sektors und einer Bedürfnisindustrie, die zwecks Konsumanreiz immer neue Bedürfnisse schafft und immer neue Absatzmärkte erschließt.

Die Veränderung der Produktionsbedingungen und häuslichen Verhältnisse seit Anfang dieses Jahrhunderts, die Ausweitung von Bildungseinrichtungen, von Freizeit- und Konsummöglichkeiten sowie Autoritätsverlust der Eltern etc. schufen die Voraussetzungen dafür, daß Jugendliche eigene (nicht unbedingt autonome!) Institutionen und Ausdrucksformen, einschließlich der Rockmusik, entwickeln konnten.

"Spätestens seit Anfang unseres Jahrhunderts gab es die Schreckensvision von einer eigenen Welt der Jugend, die von den Interessen der Erwachsenen unberührt bleibt und ausschließlich von den Normen Gleichgesinnter bestimmt wird."2

Demgemäß wurden Jugendliche auf der einen Seite zum Objekt verschärfter Integrationsbemühungen, aber gleichzeitig stilisierte man "die Jugend" gerade aufgrund ihrer hedonistischen Orientierung und ihrer Abkehr vom rigiden Normgefüge der etablierten Gesellschaft zum Symbol von Ungezwungenheit und eines freieren Lebensstils. Jugendlichkeit avancierte zu einem besonders werbewirksamen Konsumideal. Mit der Favorisierung konvergierte die allmähliche Etablierung eines Marktes, der speziell auf den Jugendkonsum zugeschnitten wurde; nämlich in Form von Discos, Pubs, Coffeebars, Dance-halls, Boutiquen, Plattenläden etc.‚ wobei der Musik, vor allem der Rockmusik, aufgrund ihrer stimulierenden Wirkung als Transporteur von Gefühlszuständen eine besonders herausragende Rolle zukommt.

Seit der Entstehung verschiedener Jugendtrends und -kulturen — angefangen bei den Teenagerkulturen der 20er und 50er Jahre über die eher politisch orientierten Gegenkulturen der 60iger und 70iger Jahre sowie den neuesten Trends in der Punk- und New Wave-Szene seit 1976/77 — kann man ein Phänomen durchgängig beobachten; und zwar daß alle jugendlichen Subkulturen — mit Ausnahme vielleicht der eher quietistischen Bewegungen — durch Markt- und Steuerungsmechanismen, die auf Beherrschung eines möglichst großen Massenmarktes hin konzipiert sind, ihrer systemschädigenden Elemente beraubt, durch das System vereinnahmt und ihrer spezifischen Ausdrucksformen enteignet wurden. Simon Frith beschreibt diesen Vorgang der "kulturellen Enteignung" anhand des Aufstiegs und Niedergangs des Rock’n Roll der 50er, der Rockmusik der 60er und des Punkrock gegen Ende der 70er Jahre.3

Dem Prozeß der Vereinnahmung und Kommerzialisierung kann sich keine Subkultur von vornherein entziehen. Im Gegenteil ist jede Kultur, die im Kapitalismus entsteht, den widersprüchlichen Bedingungen des Systems ausgesetzt und ihre Ausdrucksmittel reflektieren die Auseinandersetzungen innerhalb der "kapitalistischen Kultur"4 und "(…) die Probleme, die entstehen, wenn Träume abgepackt und verkauft werden."5

Der Anspruch vieler Rockmusiker unkommerziell oder avantgardistisch zu sein oder so etwas wie eine subversive Kultur zu repräsentieren ist wohl eher als Ideologie zu bezeichnen, da die Notwendigkeit wirtschaftlich zu existieren oder als Musiker Erfolg zu haben und ein Publikum zu gewinnen auch eine gewisse Orientierung an aktuellen Trends und dem bestehenden Markt erfordert.

Auf Grundlage einer fundamentalen Kritik des Industriekapitalismus gehen linke Ideologiekritiker davon aus, daß die kommerziell produzierte Musik unter den politischen und ökonomischen Bedingungen des Kapitalismus als ein "Instrument der sozialen Kontrolle"6 fungiere, da sie aus ideologischen und kommerziellen Erwägungen die radikalen Impulse jugendlicher Identitätssuche und Widerstandspotentiale kanalisiere und mit Hilfe "orgastischer Ausdrucksformen" in den "(…) konditionierten Reaktionen des Bauches (…)"7 untergehen lasse.

Adorno zufolge implizieren Warencharakter und ideologischer Nutzen den Wert der sogenannten Massenkultur (einschließlich der Rock- und Popkultur), deren Konsum unter den technologischen Bedingungen relativ beliebiger Reproduzierbarkeit zu einem entfremdeten Vorgang wird, der mit der von Adorno geforderten Kreativität und dem Protestcharakter ästhetischer Ausdrucksformen nichts mehr gemein hat. Die Phantasie der Hörer wird ihrer utopischen Kraft enteignet, Bewußtsein und Phantasie kolonisiert, besetzt vom Stakkato einer standardisierten Kunst, die nicht mehr "Quelle der Hoffnung" auf Veränderung sein kann, sondern nur noch "Symbol der Kastration".8

Da zwischen der ursprünglichen Musik und dem Hören der Musik — auch bei Live-Auftritten — komplizierte technische Vorgänge der Klangproduktion und -umsetzung sowie bei Einstieg in das große Musikgeschäft (d. i. Schallplattenproduktion größeren Umfangs) ökonomische Prozesse der Vermarktung stehen, ist es unerläßlich, die Auswirkungen gezielter Marketingmethoden und Kommerzialisierungsverfahren auf das jugendliche Publikum und die Musiker zu berücksichtigen.

So berechtigt die kulturkritische Bewertung von konsumgerecht verpackter und populär gemachter Rockmusik im Hinblick auf die Angebotsseite ist, so problematisch ist hingegen die Gleichsetzung von Korruption und Kommerz, von standardisierter Massenkultur und konditionierter Subjektivität im Hinblick auf die Nachfrageseite, da die reale Lebenswelt, die konkreten Erfahrungsdimensionen und Aneignungsprozesse auf dieser Abstraktionsebene nicht angemessen mit ins Blickfeld gerückt sind.

Da der kulturelle Gebrauchswert von Musik auf ästhetischen Präferenzen beruht, ist die zunehmende Professionalisierung, die hochdifferenzierte Arbeitsteilung in der Musikbranche sowie das Ingangsetzen teurer Werbekampagnen und Promotionsmethoden und der Verkauf spezieller Dienstleistungen nur eine Strategie im Umgang mit der Widersprüchlichkeit‚ der geringen Planbarkeit und Unberechenbarkeit subkultureller Ausdrucksmedien und Entwicklungsprozesse.

Die explodierende Stilvielfalt subkultureller Entwicklungstrends, die sich in der Heterogenität musikalischer Geschmacksrichtungen niederschlägt, bewirkt, daß die Jugendlichen nicht ohne Weiteres an großangelegter Konsumfront auszuschlachten sind.

Die Protesthaltigkeit und die konkrete Wirkung von Musik sind nicht ausschließlich durch ihre kommerzielle Existenz oder den Grad ihrer Standardisierung, Popularität und Vermarktbarkeit zu erfassen.

Für die kulturelle Bewertung von Rockmusik und die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen ihrer Ausdruckskraft und ihrer Einnehmbarkeit durch die "dominierende Kultur" ist der konkrete Kontext ihrer Aneignung durch den konkreten Menschen bedeutsam und die Art und Weise ihres Gebrauchs im Orientierungsrahmen subkultureller Gruppierungen.9 Musikhörende und musikmachende Jugendliche sind gezwungen, auf die Angebote des kommerziellen Marktes und der "dominierenden Kultur" zurückzugreifen und insofern natürlich auch durch diese beeinflußt, dennoch muß man gegen die pessimistischen Befunde ideologiekritischer Herkunft einwenden, daß der bereits erwähnte Aneignungsprozeß neben seiner — durchaus eingestandenen Steuerbarkeit — aber auch ein aktiver Prozeß ist, der sich im Beteiligtsein an einer konkreten Alltagswelt vollzieht. Aus diesem Beteiligtsein heraus, aus der subjektiven Betroffenheit nämlich werden kulturelle Ausdrucksmittel gewählt, gedeutet und gebraucht und der subjektive Aneignungsprozeß ist — wir hoffen dies anhand der Interviews zu veranschaulichen — ein offener Vorgang, der nicht bis in die letzten Winkel fremdbestimmt und unter systemgebundene Funktionsmechanismen zu subsumieren ist.

Zur Aachener Musikszene — ein Gespräch mit Charlie Büchel

Um uns einen Überblick in bezug auf die Aachener Musikszene zu verschaffen, sprachen wir mit Charly Büchel, der sie seit achtzehn Jahren aktiv mitgestaltet und beobachtet hat. Er schätzt die Zahl der regelmäßig spielenden Gruppen auf ca. 40 ein, wobei gleich ein Problem deutlich wird, nämlich daß man die Zahl nur ungefähr angeben kann, da die meisten Musikgruppen ihre Proberäume nie verlassen, weil in Aachen zuwenig Auftrittsmöglichkeiten existieren. Selbst Proberäume sind rar, und so verhindern fehlende Probemöglichkeiten das Zusammenspiel vieler Gruppen, wobei gerade jüngere, noch unbekannte Musiker besonders unter der Situation zu leiden haben. Die fehlende Chance öffentlich aufzutreten, beeinflußt die musikalischen Fähigkeiten einer Band. Der "Zwang" vor Publikum zu spielen, fördert die Gruppe, da Stücke sauber gespielt werden müssen und aus einem Improvisationsstadium herauskommen. Bands, die einmal gefragt sind, erhalten die meisten Auftrittsmöglichkeiten und somit die Chance, ihre Musik weiter zu verbessern. So erklärt sich, daß nur fünf Aachener Gruppen Platten produzieren. Zwei stehen unter einem Plattenvertrag eines Produzenten, die anderen drei sind ihre eigenen Produzenten. Die Orientierung hinsichtlich einer möglichen Vermarktung ihrer Musik beeinflußt ihre Stücke derart, daß aktuelle Trends verstärkt berücksichtigt werden. Ferner gehen die Bemühungen in die Richtung populäre Musik, also in Richtung größerer Zuhörerschaft zu gestalten, ein Rhythmus sollte dann klar erkennbar sein, so daß die Möglichkeit besteht, daß ein Stück zum "Ohrwurm" wird. Ebenfalls sind Kriterien, auf die Musik tanzen zu können oder die Texte gut zu finden, entscheidend für einen "Hit".

Andererseits gibt es auch Gruppen, die weder an Trends noch in Richtung Vermarktung interessiert sind. Hierzu gehören momentan Free Jazz und Folk Gruppen. Bei beiden steht die Selbstverwirklichung in der Musik vor dem Publikumsbezug. Solche unterschiedlichen Ansätze läßt die Frage nach den verschiedenen Motivationen aufkommen. Charly B. geht von der These aus, daß jedes Instrument auffordert, Gefühle einzubringen, so daß das Produzieren von Musik als kreativ empfunden wird und somit für das Individuum aufbauend wirkt.

Zu den Interviews

Das Gespräch mit unterschiedlichen Musikgruppen kann nur exemplarisch veranschaulichen, welche Möglichkeiten der Selbstdefinition und Selbstverständigung — ästhetisch und politisch gesehen — es im Rahmen aktueller Musikströmungen gibt, und inwieweit die Orientierung an bestimmten subkulturellen Gruppierungen die Auswahl musikalischer Ausdrucksmittel determiniert, da sie an bestimmte Identifrkationsmöglichkeiten und Kommunikationsformen gebunden ist. Da wir keine repräsentative Studie vorlegen können, sondern wie gesagt, lediglich eine exemplarische Auswahl trafen, versuchten wir, die Gesprächssituationen möglichst offen zu gestalten, d. h. nicht nach standardisierten Fragen vorzugehen, um auf diese Weise die Musiker möglichst authentisch zu Wort kommen zu lassen und nicht durch Fragetechnik in ein vorgegebenes Schema zu pressen.

Zu "Ex" und "Volksboiler"

Wir befragten zwei Aachener Amateurmusikgruppen, "Ex" und "Volksboiler"‚ hinsichtlich des Wechselverhältnisses ihrer Musik und politischen und gesellschaftlichen Geschehens sowie nach der Bedeutung ihrer Musik für sie selbst und ihr Publikum, ferner nach ihrer Einstellung zur Orientierung an aktuellen Trends und der Vermarktung von Musik. Nach ihren Vorstellungen stehen Motivation und Lebensgefühl, das in der Musik Ausdruck findet, in einem Zusammenhang zwischen persönlicher Situation und dem Eindruck von der Gesellschaft. Die persönliche Situation ist durch ein einmaliges Gespräch nur unzulänglich erkennbar. Die Gruppe "Ex" ist im Durchschnitt achtzehn Jahre alt und besitzt durch Berufsausbildung ihrer Mitglieder eigentlich noch "ganz gute Voraussetzungen, einen Job zu bekommen, aber allein schon, daß kein Job mehr frei ist, daß schon alles von Technik und Computern übernommen ist, oder die Tatsache, daß man sich auch wieder anpaßt — wenn man sich anpaßt an die ganzen Fortschritte, die es gibt, sehe ich keine kurzfristige Veränderung drin in dem ganzen Scheiß gegen den man sich wenden sollte." (der Bassist)

"...und Lebensgefühl (Gruppe Ex)" ['Einblicke', S. 244]

„…und Lebensgefühl (Gruppe Ex)“ [‚Einblicke‘, S. 244]

Volksboiler ist durchschnittlich ca. 24 Jahre alt und in der Mehrzahl Studenten.

Musikgeschmack und Textinhalt sind zeitgebunden

Eine Klassifizierung in eine bestimmte musikalische Richtung fällt beiden Gruppen schwer. "Ex" möchte sich stilistisch gar nicht festlegen, ihre Musik höchstens mit Attributen wie "laut und schnell" belegen, obwohl eine starke Anlehnung an New Wave und Punk betont wird. "Volksboiler" versteht ihre Musik als Rock mit einer Orientierung zum New Wave hin. Wobei die Entscheidung solche Musik zu machen vom musikalischen Geschmack und der Möglichkeit mit solcher Musik auftreten zu können, abhängig gemacht wurde.

"Gute Rockmusik mit Texten, die auch inhaltlich interessant sind, kann man schon mal eher öffentlich spielen. In erster Hinsicht war das eine musikalische Entscheidung und keine politische …, dann kam eben auch die Zeit, wo mehr Gruppen mit deutschen Texten kamen, und daß man einfach mal gesehen hat, daß so etwas geht, also ich weiß, mir ist es früher so gegangen, daß man irgendwie Angst hatte, deutsch zu singen, das kam einem einfach alles blöd vor. Es fielen einem nur Schlager und Opernsänger ein."

"'Spaß beim Musikhören ist auch wichtig.' Gruppe Volksboiler" ['Einblicke', S. 245]

„‚Spaß beim Musikhören ist auch wichtig.‘ Gruppe Volksboiler“ [‚Einblicke‘, S. 245]

Eine Anlehnung an momentan aktuelle Trends ist also bei beiden Gruppen gegeben. Ein musikalischer "Zeitgeist" innerhalb der Musik von Subkulturen beeinflußt beide Gruppen. Ebenfalls werden mögliche Veränderungen durch neue musikalische Trends nicht ausgeschlossen. Eine Beeinflussung der Musik findet nicht nur durch neue stilistische Richtungen innerhalb der Subkultur statt, sondern auch direkt durch Einflüsse, die aus der Gesellschaft, d. h. aus der dominierenden Kultur herüberkommen. "Wo man sowas hört oder sieht, wie z. B. dieser Film "Atomic Cafe", wo den Leuten was angedreht wird, was eben aufgenommen wurde, um die Atombombe zu verherrlichen — hieraus haben wir ein Stück gemacht, d. h. "Duck and Cover" "ducken und bedecken". (Bassist von "Ex") "Du kannst die Wirklichkeit so darstellen, wie du das siehst. Wenn der Wiwi z. B. den Text über Spanienurlaube gemacht hat, wie das so abläuft (Bassist von "Volksboiler"). Bei beiden Gruppen wird deutlich, daß gesellschaftliche Phänomene aufgegriffen und aus ihrer subkulturellen Sicht dargestellt werden. Persönliche Grundeinstellungen und Erfahrungen mit der Gesellschaft sind somit entscheidend für Texte und Musik. Die Anlehnung an aktuelle Trends und die Beeinflussung durch die dominierende Kultur sind im übrigen nicht voneinander zu trennen, da sich aktuelle Trends ebenso als Reaktion auf die gegenwärtige gesellschaftliche Realität entwickeln, wie die Musik der einzelnen Gruppen. Die dominante Kultur bestimmt also die Stile einer Subkultur mit, da diese in der Ambivalenz zwischen Kontinuität und Abgrenzung zur Hauptkultur entwickelt werden. Die subkulturelle Ausdrucksform "Musik" wird durch jede Band individuell interpretiert und um die eigene Lebenserfahrung erweitert.

[Volksboiler, 'Einblicke', S. 245]

[Volksboiler, ‚Einblicke‘, S. 245]

Musik als Mittel der "Kritik"?

Wir "machen innerhalb der politischen Anschauung (einer bestimmten subkulturellen Strömung, d. V.) Musik, und unsere Texte sollen auch damit was zu tun haben, damit irgendeine Botschaft rüberkommt" (Bassist von "Volksboiler"). Die Intention bei "Ex" ist mehr geprägt durch Kritik in der Form, daß alles versucht wird, lächerlich zu machen. Eine Auseinandersetzung, so daß man über gesellschaftliche Phänomene "schimpft", sie "verurteilt" oder "zwischenmenschliche Probleme irgendwelchen Ausmaßes behandelt", wird abgelehnt, da es "keinen Sinn hat".

"Es läuft so, wie es laufen muß, sicher kann man sich wehren, aber nicht mit Musik." (Gitarrist von "Ex")

Solche Ausdrucksformen der Subkultur, die sich als Reaktion auf die Erscheinung der dominanten Kultur verstehen lassen, schaffen durch ihre Selbstdarstellung, die authentischen Charakter hat, neue Erscheinungsformen der noch nicht so festgelegten Subkultur. Umreißt Musik, die aus der Subkultur entsteht (als Reaktion und in der Kontinuität zur Hauptkultur), somit die Inhalte derselben, trägt sie also zu dessen Identifikation bei, so prägt sie aktiv an der Konstituierung mit, indem sie als handelnder Teil einer Bewegung neue Kultur- und Lebensformen hervorbringt. Für "Ex" sind z. B. Texte, die Resignation vermitteln, indem sie die eigene "beschissene" Lage oder die "schlechte Zeit" besingen, nicht akzeptabel.

"Nun ist das einfach so, daß wir nicht mit Entsetzen darüber wehklagen …, wir ignorieren das eigentlich alles … vor allem Sachen, die wirklich hart sind, also Atombombe, Atomkrieg, Atomkraftwerke, es ist nicht egal, man braucht sich nicht groß dagegen zu wehren, weil es sowieso nichts nützt." (Bassist von "Ex")

Deutlich wird hierbei eine Machtlosigkeit gegenüber einer nicht planbaren, nicht berechenbaren, materiell bedrohlichen Situation, mit völlig ungewisser Zukunft, sodaß eine Auseinandersetzung, in der man z. B. Mißstände aufzeigt, nicht mehr lohnend erscheint, und als plump und naiv abgetan wird.

Verurteilt wird die "Realität", indem man sie lächerlich macht. Bei der Gruppe "Volksboiler" existieren mehr Ansätze zu einer Auseinandersetzung mit vorgegebenen gesellschaftlichen Strukturen. Auch werden persönliche oder mitmenschliche Probleme aufgegriffen (z. B. Alkoholkonsum). Ein Optimismus in Hinsicht auf größere gesellschaftliche Verbesserungen besteht zwar auch nicht, aber ein Ignorieren der vorhandenen Probleme findet nicht statt. "Ein Kennzeichen von unseren Texten ist, daß sie … in gewisser Form kritisch sind …". Hinter diesen Funktionsbestimmungen der Musik durch die Gruppen, verbergen sich unterschiedliche Anschauungen.

Gefühlswirkung und Funktion von Musik

"Rockmusik ist eine der letzten Bastionen gelebten Abenteuers in einer (…) in ihren Ausdrucksformen funktionalisierten Zivilisationswelt."10

Wenn also die Gruppe "Ex" den momentanen gesellschaftlichen Status quo als "beschissen" bezeichnet, jedoch Veränderungen ausschließt, so kommt ihrer Musik eine stark kompensatorische Funktion zu. Die aufgestauten Frustrationen und Aggressionen sollen durch die Musik abgebaut werden. Hierzu ist es nötig, daß sie schnell und laut ist und musikalisch unbeschränkt, auch wenn die Perfektion darunter leidet. Dies dient dem Ziel, eine Situation, nicht nur für die Gruppe, sondern auch für die Zuhörer zu schaffen, in der alles rausgelassen werden kann, was aufgestaut worden ist. Diese Befreiung entsteht beim Publikum, indem es wild tanzt, um sich schlägt und tritt. Um dies zu erreichen, muß die "Selbstgefalligkeit" der Zuhörer zerstört werden. Als desillusionierendes Stilmittel, um die Zufriedenheit mit den bestehenden Lebensbedingungen aufzulösen und den dann "hochkommenden" Frust auszuleben, wird harte und aggressive Musik benutzt, die gleichzeitig als Ventil zum Abreagieren dient. Die Intensität, mit der dies betrieben wird, ist abhängig von dem sozialen Kontext des Einzelnen. Hieraus ergibt sich auch die Unterscheidung der Gruppe "Volksboiler". Ihre Intention gegenüber dem Publikum besteht mehr darin, daß es Spaß an ihrer Musik haben soll. Außerdem soll das Vermittelte vielleicht etwas nachdenklich machen. Daraus ergibt sich auch eine unterschiedliche Bedeutung des "Musikmachens" für die Gruppe. Bei "Volksboiler" steht der Spaß an der Musik, Selbstbestätigung, Entfaltung und Freizeitbeschäftigung im Vordergrund. Für "Ex" ist die Musik vielmehr Identifikations- und Lebensmöglichkeit. Die oben beschriebene desillusionierende Wirkung und die Chance, durch Musik intensiv zu erleben und auszuleben, wird auch im Folgenden deutlich: "Es gibt Texte von Ralph, die einfach was wiedergeben und beschreiben, die vielleicht so einen Teil unseres Lebens wiedergeben, z. B. "Zuck"." In diesem Text wird der Wunsch nach intensivem Leben und Erleben deutlich. Eine für sie entscheidende Möglichkeit, diesen "Zuck" (also das Lebensgefühl) zu erhalten, ist ihre Art und Weise Musik zu machen. Hierin wird deutlich, welche Bedeutung die Musik für sie hat.

[Volksboiler, 'Einblicke', S. 246]

[Volksboiler, ‚Einblicke‘, S. 246]

Professionalisierung ohne Vermarktung

Beide Gruppen treten relativ regelmäßig auf, dadurch werden Stücke fertig geschrieben, kommen also aus einem Improvisationsstadium heraus. Ferner fördert der Leistungsanspruch bei öffentlichen Auftritten die Bands. "Ex" wollen möglichst viele Leute mit ihrer Musik ansprechen, und wollen versuchen, mit der Musik Geld zu verdienen. Eine Vermarktung ihrer Musik könnte die Musik zwar beeinflussen, sie würden aber auf jeden Fall den Sinn ihrer Musik nicht verändern lassen. Ähnlich sieht "Volksboiler", sie wollen Amateure bleiben, eine Gefahr in der Vermarktung von Musik, obwohl durch eine Vermarktung allein die Musik sich nicht in Richtung "kommerzieller Musik" ändern würde. Ob eine Musik kommerziell ist, "liegt ja nicht an den Tönen". (Gitarrist von "Volksboiler") Beeinflussungen, die durch einen Plattenvertrag entstehen können, würden beide ablehnen. Um sich dem zu entziehen, und für nichtetablierte Gruppen vielleicht die einzige Möglichkeit Öffentlichkeit zu bekommen, ist die Verbreitung über alternative Formen wie Cassettenlabel oder ähnliches angebracht. "Volksboiler" produzierte bereits eine solche Cassette. "Ex" würde trotzdem lieber eine Platte produzieren.

Kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung — Schlußbemerkung

Abschließend läßt sich festhalten, daß beide Musikgruppen entsprechend ihrer Lebenseinstellung und Lebenssichtweise Musik machen, als Ausdrucksmittel ihres Lebensgefühls. Die Bedeutung und Wichtigkeit ist zwar unterschiedlich, aber bei beiden Gruppen als eine Form von Kritik gegen die bestehende Wirklichkeit zu verstehen. Die Tatsache, daß "Ex" und "Volksboiler" auf ihre jeweils eigene Art und Weise ihre Musik definieren und sich dabei an je unterschiedliche kulturelle Trends anlehnen, obwohl sie sich nicht explizit in bestimmte Subkulturen einordnen, zeigt, daß sie sich aus ihrer subjektiven Situation heraus vorhandener kultureller Möglichkeiten und Medien bedienen und sie in ihren eigenen sozialen Kontext hineintragen. Die unterschiedliche Haltung gegenüber ein und demselben Medium Rockmusik und die je spezifischen Ausdrucksunterschiede, die sich darin wiederfinden, entsprechen der Tatsache, daß es voneinander abweichende Lebenshaltungen und Realitätssichten gibt, die sich in subkulturellen Stilvarianten Ausdruck verschaffen. Die Bedeutung dieser Unterschiede besteht — wie P. Willis es formuliert — darin, daß es "jetzt von vorneherein unmöglich ist zu glauben, daß es nur einige Formen des Daseins gibt — die angemessenen und kontrollierten".11

"'Du kannst die Wirklichkeit so darstellen, wie Du sie siehst' (Gruppe Volksboiler)" ['Einblicke', S. 246]

„‚Du kannst die Wirklichkeit so darstellen, wie Du sie siehst‘ (Gruppe Volksboiler)“ [‚Einblicke‘, S. 246]

Die breite Palette an kulturellen Trends, die sich vor allem in den Großstädten entwickelt, ist nach P. Willis der authentische Ausdruck einer kulturellen Verwirrung und nach seiner vielleicht etwas zu optimistischen Einschätzung aber auch der irreversible Vorgang einer "tiefgehenden Reorganisation von Erfahrung und Ausdruck"12, was Widerstandspotential freisetzen und möglicherweise subversive Formen gegen die herrschende Ordnung und Disziplin entwickeln kann.


  1. Stark, J. und Kurzawa, M.: Der große Schwindel. Punk & New Wave — Neue Welle. Frankfurt/M. 1981. S. 5.

  2. Frith, S.: Jugendkultur und Rockmusik. Soziologie der englischen Musikszene. Reinbek bei Hamburg. 1981. S.211.

  3. Vgl. ebd.

  4. Der Kapitalismus selbst kann nicht als Kultur bezeichnet werden; als ein spezifisches ökonomisches System hat er an überlieferter und sich formierender Kultur lediglich parasitär teil. Vgl. Ziehe, Th.: Plädoyer für ungewöhnliches Lernen. Hamburg. 198l.

  5. Frith, S., a.a.O.

  6. Ebd., S. 5l.

  7. Ebd, S. 51.

  8. Adorno, Th. W.: Zeitlose Mode. Zum Jazz. In: Prismen. Frankfurt/M, (1955) 1976. S. 154 ff.

  9. Die Aneignungs- und Gebrauchsmöglichkeiten kultureller Ausdrucksformen und Objekte können nur vor dem Hintergrund sozialer, ökonomischer und bildungsmäßiger Chancen sowie altersmäßiger, geschlechtsmäßiger und familiärer Erfahrungen adäquat erfaßt werden. D. h., daß die konkreten Abgrenzungs- und Orientierungsbedürfnisse Jugendlicher mindestens ebensosehr zu berücksichtigen sind wie der ökonomische, politische und ideologische Nutzen von "Kulturwaren".

  10. Stark, J. und Kurzawa, M.: Der große Schwindel, a.a.O., S. 5.

  11. Willis, P.: Profane Culture. Frankfurt/M. 1981. S. 12.

  12. Ebd.

Einblicke, Folge 3: Die „Rotationsgruppe“ mit den Fanzinemachern von „The Domestos“

Filed under: 1982, Aachen in den 80ern, Clubszene AC, Fanzine, New Wave, New wave in Aachen, Peinhardt-Franke, Punk in Aachen — Dieter Antonio Schinzel @ 3:15 am

Einblicke - Buchcover

Immer tiefer werden die soziologischen Einblicke in die Punk- und Wave-bewegten Aachener Jugendkulturen der Frühachtziger. Von den Punks am Marktplatz und Berufsfachschülerinnen in Charly’s Reichsapfel geht’s weiter zur „Rotationsgruppe“, einer mittelständischen Waver- und Mod-Clique. Buchherausgeberin Ingrid Peinhardt-Franke schrieb an diesem Kapitel nicht mit. Stattdessen berufen sich die Autoren, die nach unseren Google-Recherchen heute u.a. in Uganda, beim WDR, in der RWTH, der Lehrerfortbildung sowie als Kommunikationsberater arbeiten, auf John Clarke und Paul Willis, zwei frühe Vertreter der britischen cultural studies; jener spätmarxistischen Denkschule, die in den 90er Jahren von Spex & Co. in die deutschsprachige Popkultur importiert und einverleibt wurde.

Doch hier interessieren uns andere Details: Gibt’s unter unseren Leser/inn/en ehemalige Mitglieder oder Bekannte der Rotationsgruppe? Wer hat noch Exemplare von „The Domestos“ und „Volksbegehren“, die wir in dieses Blog stellen können?

Beachtlich erscheint uns auch die Rotationsgruppenanalyse der unterbelichteten und unterschlagenen Kultur des gewalttätigen Früh-80er-Prolotums (das sich erst in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts die Schädel scheren und Bomberjacken anziehen sollte): „weiße Westernstiefel, Mittelscheitel, Puch […] AC/DC hören und andren eins in die Fresse hauen“. Eine dichte retrospektive Beschreibung liefert Heinrich Dubel alias Rosa in seinen Jugenderinnerungen an die Hannoveraner Frühachtziger: „Die älteren Jugendlichen, die am Kiosk an der Straßenecke herumlungerten, während wir Jüngeren sie vom gegenüberliegenden Spielplatz dabei beobachteten, wie sie ihr Bier tranken, über die Leistungen ihrer Mopeds quatschten beziehungsweise über die Autos, die sie sich irgendwann kaufen würden, trugen Schlaghosen mit Fuchsschwänzen am Gürtel und cowboystiefelartige Stiefeletten mit schrägen Absätzen. Echte Cowboystiefel waren unerschwinglich.“ In Hannover firmierten die härtesten Vertreter dieser Gattung laut Dubel unter dem – deutsch ausgesprochenen – Namen „Buffer“ und stiefelten ihn, den Punk, zum monatelangen Krankenhausaufenthalt nieder. In Aachen war die Speerspitze dieser Subkultur im berüchtigten „Mad Club“ organisiert, der unter anderem Backsteine auf Besucher von Wave-Parties warf und in James Dean-Manier illegale Autorennen auf dem Lousberg fuhr, bis sein Führungspersonal Knastkarriere machte.

Doch zurück zur Rotationsgruppe:


Eine Schülerclique — die "Rotationsgruppe"

Bernd Ax‚ Reiner Bovelet, Peter Hartges, Elke Kraus, Sabina Nörenberg

Einleitung

Die "Rotationsgruppe", ein lockerer Freundschaftskreis von Jungen und Mädchen im Alter von 15-18 Jahren, trifft sich seit dem Sommer 1981 regelmäßig in der "Rotation", einer Tanzkneipe im Aachener Univiertel. Die Jugendlichen kennen sich sowohl aus der Schule, die sie alle noch besuchen, als auch durch Freizeitaktivitäten (Gitarrenkurs‚ Basketballspielen). Obwohl bei dem wöchentlichen Treffen in der "Rotation" regelmäßig ein fester Stamm von etwa zehn bis fünfzehn Jugendlichen erscheint, ist die Gruppe neuen Bekanntschaften einzelner Gruppenmitglieder gegenüber prinzipiell offen.

"Wir wollen unsere Freizeit selbst gestalten." ['Einblicke', S. 116]

„Wir wollen unsere Freizeit selbst gestalten.“ [‚Einblicke‘, S. 116]

Der Gruppenzusammenhalt ist durch gemeinsame Interessen und Sympathien füreinander gegeben. Aufgrund der Überzeugung, "[…] daß es nichts bringt, bestimmte Sachen alleine zu machen" (Jörg), werden gemeinsame Aktionen durchgeführt. Dazu gehören sowohl der Besuch von Kneipen und Kinoveranstaltungen, Konzerten und Feten als auch das private Treffen, in dessen Mittelpunkt Musikhören und "sich unterhalten" steht. Ziel aller Unternehmungen ist es, möglichst viel Spaß zu haben.

Unser zentrales Anliegen bestand darin, die Charakteristika des jugendlichen Lebensstils zu erfassen und zu erklären. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf dem Symbolsystem des subkulturellen Stils. Das Verhältnis der Jugendlichen zu für sie wichtigen Objekten, Produkten und Artefakten soll dargestellt werden. Wie und wodurch sich die ästhetisch-kulturelle Erfindungskraft ausdrückt und an welche sozialen Orte sie gebunden ist, soll zunächst untersucht werden. Des weiteren werden das Lebensgefühl der Jugendlichen und ihre persönlichen Zukunftserwartungen ausgeführt.

Ästhetische Praxis

Die Kleidung und die Frisur können als sichtbarste, persönlichste und unmittelbar verständlichste Elemente eines bestimmten kulturellen Stils gewertet werden.1 Dementsprechend legen die Jugendlichen sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Sie versuchen, sich möglichst ausgefallen zu kleiden, um sich von anderen abzuheben. Die Originalität wird durch Umgestaltung bzw. neue Zusammenstellung der Kleidungsstücke (z. B. schwarze Kleidung, Nietengurt, Schnürstiefel, Halsband mit Nieten —— Jackett mit Kavalierstuch) und durch eine wirkungsvolle Frisur der Haare (z. B. Schwarzfärben der Haare, lange Strähne bis zum Kinn, abstehende Haare) erreicht. Die Verwendung von Accessoires wie Nietenarmbänder, Schnallen, Buttons und Halstüchern ist bei den Jugendlichen sehr beliebt, da sie die Möglichkeit, originell zu wirken, vergrößern.

"Kreativität am eigenen Körper" ['Einblicke', S. 116]

„Kreativität am eigenen Körper“ [‚Einblicke‘, S. 116]

Diese Kreativität am eigenen Körper dient zur Bestätigung der eigenen Persönlichkeit und als Ausdruck von Individualität. Sie erfährt insofern eine oppositionelle Bedeutung, da alle Jugendlichen durch ihr Äußeres in der Öffentlichkeit und in ihrer Umgebung auffallen bzw. sich von der "Allgemeinheit" abgrenzen wollen. Dieses Ziel wird erreicht, indem die umgestalteten Gegenstände eine ihrem Milieu fremde Symbolik erhalten (z.B. mit Zebrastreifen bemalte Schuhe). Die ausgefallenen Frisuren und die — insbesonders von der Punkszene übernommene — Kleidung bedeuten eine Provokation der bürgerlichen Gesellschaft. Den Jugendlichen ermöglicht ihre Aufmachung eine symbolische Distanzierung von den bürgerlichen Normen und damit verbunden auch von den Normen der Welt der Erwachsenen. Die Kleidung muß somit in Verbindung mit einem bestimmten Lebensgefühl gesehen werden, das sich als "unbürgerlich", "antispießerhaft" bezeichnen läßt. Bestimmte Objekte, wie z.B. die Kleidungsstücke, stehen in einem größeren symbolischen Zusammenhang, der sich als kultureller Stil äußert. Der Protestgehalt darf jedoch nicht überbewertet werden, da Sinn und Zweck des Auffallens und Provozierens auch in der Steigerung des Selbstwertgefühls liegen.

In einem Gespräch mit einem Jugendlichen, der zu seinem Verhältnis zur Kleidung befragt wurde, kommt dieses klar zum Ausdruck.

Hans-Dieter: "Am liebsten bin ich so angezogen, wie andere nicht rumlaufen und wie ich überzeugt bin, daß ich ganz toll aussehe."

Frage: "Und wieso willst du nicht wie andere rumlaufen?"

Hans-Dieter: "Das wäre ja schrecklich."

Frage: "Willst du dich dadurch gegen Normen wehren?"

Hans-Dieter: "Ja, das sowieso, aber das ist schon alt und ‚abgetrappt‘. Heute geht man in die anderen Sachen rein, z. B. schwarz, das ist die Farbe, das trägt im Hochsommer keiner, da tragen die Leute alle helle und bunte Farben — damit wehrt man sich gegen diesen ganzen Schwung. Früher z. B. sind wir bei Bingo2 einkaufen gegangen, weil die ganz jecke Sachen hatten. Der Nachteil — heute macht das jeder. Also muß man wieder zu neuen Sachen greifen. Früher z. B. genügte es, zum American Stock3 zu gehen: so eine kurze, schwarze Hüftjacke, Bundeswehrhose, wow, der Mann war gemacht. Heute läuft jeder damit rum. Deswegen muß man sich eben selber was ausdenken oder neue Sachen zusammenstellen."

"Kreativität am eigenen Körper" ['Einblicke', S. 117]

„Kreativität am eigenen Körper“ [‚Einblicke‘, S. 117]

Hier wird deutlich, daß der Protest als Versuch zu werten ist, angesichts unserer Massengesellschaft und der immer stärkeren Kommerzialisierung von Jugendkulturen eine Möglichkeit zu suchen, sich als Persönlichkeit zu entwickeln. Die hohe Bewertung von Individualität, die allgemein als besonders typisch für Mittelschichtsjugendliche gilt,4 und die Betonung der autonomen Persönlichkeitsentwicklung hängen eng mit dem bürgerlichen Emanzipationsbegriff zusammen. Bürgerliche Subjektivität kann am radikalsten in der Kunst artikuliert werden, da sich dort die Einzigartigkeit und die Individualität am ausgeprägtesten bestätigen lassen.5 Es handelt sich jedoch bei den ästhetischen Tätigkeiten der Jugendlichen nicht um reine Kunstprodukte‚ sondern auch um Strukturen eines Lebensstils.

Neben der Mode ist auch die Musik ein Element des Lebensstils der Jugendlichen. Obwohl der Musik von den einzelnen Gruppenmitgliedern eine unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird — was sich z.B. in der Häufigkeit des Musikgebrauchs ausdrückt — spielt sie bei den meisten eine wichtige Rolle. Dies verdeutlicht die Aussage von Patrick: "Musik ist ein Teil meines Lebens." Bei einigen geht das Interesse so weit, daß sie bei jeder möglichen Gelegenheit Musik hören.

Ebenso wie die Kleidung ist auch der Musikgebrauch weitgehend stilabhängig und unterliegt dem Anspruch auf Individualität und Originalität. Obwohl es Musik gibt, die allen Gruppenmitgliedern gefällt, sind sie bemüht, einen eigenen Geschmack zu entwickeln. Als allgemeinen Schwerpunkt kann zwar die "New-Wave"-Musik genannt werden, darüber hinaus werden jedoch noch verschiedene andere Musikrichtungen gehört, wie z.B. Punk, Hardcore, Rock, etc. Gemeinsamkeit aller ist jedoch, daß die Musik unkonventionell (d.h. nicht total vermarktet) sein muß. Bevorzugt werden Gruppen, die als sogenannter "Insider-Tip" gelten; Gruppen mit Massenzuhörerschaft und Erfolg in den gängigen Hitparaden werden abgelehnt, da sie in diesem Moment nicht mehr einen individuellen Stil verkörpern können.

Der stilgebundene Musikkonsum ist fester Bestandteil der ästhetischen Praxis der Jugendlichen und trägt zu ihrer Identitätsfindung bei. Der Musikgebrauch schließt somit neben dem Musikhören und Tanzen auch die Kleidung und ihr Lebensgefühl mit ein. Besonders deutlich wird dies bei einem Jugendlichen, der sich selber als "Mod" bezeichnet.

Frage: "Beschreibe mal die Kennzeichen eines typischen ‚Mods‘."

Jürgen: "Ja, das sind erst mal 60er Jahre-Sachen, dann der ‚Mod‘-Parker, Krawatte, kurze Haare, Who, Jam. Und jetzt mehr von der Einstellung: Das ist praktisch in-den-Tag-hinein-leben. Wenn man die Spießer von heute sieht, hat man gar keine Lust, erwachsen zu werden. ‚Mod‘ sein, kompakt gesagt, ist ein Weglaufen vor dem ‚Erwachsenwerden‘, sich vor der Verantwortung drücken, den Tag zu genießen — eben das Beste aus jedem Tag herausholen."

Die Musik ist Bestandteil eines jugendkulturellen Stils, die wie die Kleidung im ganzen Symbolzusammenhang gesehen werden muß und Ausdruck eines Lebensgefühls ist. Der von dem Jugendlichen ausgedrückte Wunsch, nicht erwachsen zu werden und das zu tun, was ihm Spaß macht, deutet darauf hin, daß die Musik als Gegengewicht zu den künstlichen Bewegungsabläufen (wie schulischer Alltag) bzw. als Kompensationsmittel das "[…] Spannungsgefälle zwischen genormten Bedürfnissen unserer Gesellschaft und den latenten Ansprüchen auf individuelle Gestaltung"6 zu überbrücken hilft.

Der immer wieder von den Jugendlichen betonte Anspruch auf Individualität bedeutet nicht nur, originell und ausgefallen zu sein, sondern darüber hinaus auch begabter und kreativer als andere.

Jörg: "Irgendwie bilden wir uns ja schon was darauf ein, daß wir noch relativ Intelligenz besitzen, etwas eigenes auf die Beine stellen können, irgendwas machen, wenn es sein muß, irgendwas Kluges uns ausdenken können."

Der Jugendliche betont die Fähigkeit, im Gegensatz zu den meisten Menschen noch kreativ sein zu können. Indem die Jugendlichen eine eigene Zeitung produzieren, übernehmen sie "[…] mit der Beteiligung an der ästhetischen Kommunikation […] zugleich die Verpflichtung, originell zu sein, sich von anderen zu unterscheidem,7 d. h. der von den Jugendlichen auch in bezug auf Kleidung und Musik vertretene Anspruch auf Kreativität und Individualität läßt sich im Kunstbereich besonders gut verwirklichen.

Die "Rotationsgruppe" hat bis zum Februar 1983 zwei Zeitungen herausgegeben, die den Titel "Domestos" und "Volksbegehren" tragen. Die Zeitungen sind in der Art eines kleinen Heftes aufgemacht. Ausdrucksmittel ist vor allein die Sprache; es werden jedoch auch Zeichnungen, Graffities, Karrikaturen und kurze Comicstrips benutzt.

Die Zeitung dient vor allem zur Verarbeitung von persönlichen Erfahrungen in Form von Gedichten und kurzen Geschichten. Hauptthemen sind persönliche Gefühle, Probleme und Ansichten, zwischenmenschliche Beziehungen und das Verhältnis zur Gesellschaft. Das Bedürfnis, als Individuum verstanden und anerkannt zu werden, wird sowohl durch die Erstellung der Zeitung als auch durch deren Inhalte ausgedrückt.

Frage: "Meinst du denn, daß in der Zeitung allgemeine Probleme angeschnitten werden? Mir kommt es so vor, daß ihr vorwiegend persönliche Sachen verarbeitet?"

Jürgen: "Das ist gemischt, aber überwiegend sind es persönliche Probleme, also menschliche Beziehungen, wie man sich in der Masse fühlt."

Frage: "Habt ihr denn das Gefühl, daß die Masse euch erdrückt?"

Jürgen: "Ja, das ist es eben, um nicht von der Masse erdrückt zu werden, oder eben mitzuschwimmen‚ versucht man, sich durch Kleidung, etc. hervorzuheben, aber es ist eben nur ein Versuch."

"Verarbeitung von Alltagserfahrungen" ['Einblicke', S. 118]

„Verarbeitung von Alltagserfahrungen“ [‚Einblicke‘, S. 118]

In dem folgenden Gedicht, das aus der Zeitung "Domestos" stammt, kommt das Verhältnis der Jugendlichen zur Massengesellschaft klar zum Ausdruck.8

Hey Spießer
Hey Spießer mit der Bild Zeitung
unter dem Arm
Hey Spießer mit dem Dallas-Horizont
Hey Spießer, warum sagst Du "Verrückter"
zu mir
Hey Spießer, Du hast keine Ahnung von
Der Wirklichkeit
Hey Spießer, Du sagst was man Dir sagt
Hey Spießer, ich bin Dein Nebenprodukt
Hey Spießer, was weißt Du über mich?
Hey Spießer, Du wirst uns nie verstehen …….
Hey Spießer
JR

Das Gedicht verdeutlicht das Typische, Alltägliche unserer Gesellschaft. Die Manipulation des Menschen und der Verlust der autonomen Persönlichkeit und das eigene "sich unverstanden fühlen" werden als Anklage artikuliert.

"[…] So bedeutet die Orientierung der Kunst für manche Jugendliche Hoffnung auf Entwicklungshilfe bei der Ausbildung einer herausragenden ‚unbürgerlichen Individualität."9 Die individuelle kulturelle Opposition äußert sich wieder als "antispießerhaftes" Lebensgefühl und muß als Teil des gesamten kulturellen Stils betrachtet werden.

Soziale Orte: Familie und subkulturelle Gruppe

Im folgenden Abschnitt sollen die sozialen Orte, an die die ästhetische Praxis der Jugendlichen gebunden ist, dargestellt werden. Die Jugendlichen befinden sich in einer Phase der allmählichen Loslösung vom Elternhaus, die gekennzeichnet ist durch das Bestreben, selbständig zu werden. Der Versuch, sich gegenüber den Eltern durchzusetzen, v. a. im Hinblick auf ihr Äußeres, wird von allem im Großen und Ganzen als erfolgreich beschrieben. Fast immer ist es ein Prozeß, der sich über einen längeren Zeitraum hinzieht.

"Die Gruppe als Freiraum" ['Einblicke', S. 117]

„Die Gruppe als Freiraum“ [‚Einblicke‘, S. 117]

Frage: "Was sagen deine Eltern dazu, daß du so rumläufst? Ist denen das egal?"

Danielle: "… Vor drei Jahren fing das bei mir an mit Punk, daß ich Punk gut fand. Ich habe die Musik gehört und so, aber da durfte ich noch nicht die Klamotten tragen. Ich konnte noch nicht anziehen, was ich wollte, weil meine Eltern sagten, das kannst du doch nicht machen — die Lehrer und die anderen Leute, was sollen die denn denken. Ja, und auf jeden Fall habe ich die in drei Jahren so ziemlich auf alles Schockierende vorbereitet und so alles mögliche gemacht — ja, und jetzt habe ich sie eben so weit — mit Hilfe meiner Mutter -, daß ich auch die Klamotten anziehen kann."

Das Selbstbestimmungsrecht auf das eigene Äußere wird nach Angaben der Shell-Studie von 82% aller Jugendlichen im Alter von 15-17 Jahren erreicht.10 Die Durchsetzung des eigenen Stils und Geschmacks ist für die Jugendlichen von genau so großer Bedeutung wie die Dauer des abendlichen Ausgangs.

39% aller Jugendlichen im Alter von 15-17 Jahren, 90% aller Jugendlichen im Alter von 21—24 Jahren und 96% aller Jugendlichen im Alter von 21-24 Jahren können frei darüber bestimmen, wie lange sie abends wegbleiben.11 Es bestehen jedoch sowohl schicht- als auch geschlechtsspezifische Unterschiede.

In der Rotationsgruppe bestehen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen: Während die Mädchen durchschnittlich nur bis 10.00 oder 10.30 Uhr Ausgang haben, dürfen die Jungen so lange wegbleiben, wie sie möchten. Die Ursache hierfür ist jedoch vor allem in der bestehenden Altersdifferenz zu sehen.

Generell konstatiert die Shell-Studie ein früheres Ende der bewachten Jugendzeit.

"Die Umgangsweisen in der Familie werden egalitärer, der Abbau der Autorität rückt lebensgeschichtlich in jüngere Jahre vor."12

Das Verhältnis der einzelnen Gruppenmitgliedern zu ihren Eltern wird von den meisten trotz gelegentlicher Spannungen als gut beschrieben; dieses schließt jedoch nicht aus, daß sie sich im Grunde unverstanden fühlen.

Tanja: "Meine Eltern, die raffen nämlich gar nichts, die raffen wirklich gar nichts, was bei uns läuft."

Den Eltern wird, wie den Politikern, eine nur oberflächliche Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Problemen der Jugendlichen vorgeworfen — eine Beschäftigung, die, sich nur auf das Äußere beschränkend, nicht versucht, das dahinterstehende Stil- und Lebensgefühl zu verstehen. Der persönliche Stil als Ausdruck von Individualität erfährt in der Familie keine Bestätigung, da er vor allem durch Äußerlichkeiten und Symbole artikuliert wird, die von den Eltern größtenteils abgelehnt werden. Die Familie verliert somit ihre ursprüngliche Funktion als Ort der Bildung und Bestätigung von Individualität.13 Diese Funktion wird zunehmend von Medien und subkulturellen Gruppen übernommen.

Die Rolle der Medien ist jedoch zwiespältig: Zwar bestätigen sie die Jugendlichen einerseits darin, einen subkulturellen Stil zu leben; andererseits widerspricht die von den Jugendlichen abgelehnte Vermarktung der Subkulturen jedoch ihrem Anspruch auf Individualität. Die Rotationsgruppe erfüllt für die Jugendlichen die Funktion, ihre Individualität zu bestätigen und ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Die Verschiedenheit der Mitglieder wird stark betont. Dies drückt sich sowohl im Fehlen einer deutlich artikulierten kollektiven Struktur als auch durch das Fehlen eines einheitlichen Gruppenstils aus.

"Die Gegenkulturen der Mittelklasse sind diffus, weniger gruppenzentriert, individualistischer. Letztere führen typischerweise nicht zu festgefügten Subkulturen, sondern zu einem diffusen gegenkulturellen Milieu."14

Die Betonung der Individualität äußert sich auch darin, daß die von den Medien produzierten Raster, die Jugendliche in verschiedene "Schubladen" (z.B. Punks, Popper, Mods) einteilen, von allen Gruppenmitgliedern abgelehnt werden, da sie nicht "Prototyp einer bestimmten Moderichtung" (Julia) sein möchten. Ausgehend von den Stilrichtungen des New-Wave und Punk versuchen sie, ihren eigenen Stil zu finden. Obwohl ihnen bewußt ist, daß die zunehmende Kommerzialisierung der Jugendkulturen ein individuelles Aussehen erschwert, versuchen sie, sich durch Kreativität und Originalität aus der "Masse" hervorzuheben. Dabei leistet die Gruppe eine wichtige Funktion, indem sie — im Gegensatz zur Familie – ausgefallene Ideen und deren Symbolhaltigkeit versteht und bestätigt.

Des weiteren ermöglicht sie den Jugendlichen, mit Gleichaltrigen über ihre Probleme zu reden. Offenheit herrscht jedoch in der Gruppe nur zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern.

Generell kann man sagen, daß die Gruppe für die Jugendlichen einen autonomen Bereich darstellt, der es ihnen ermöglicht, sich ohne Kontrolle zu bewegen und Freundschaftsbeziehungen zu anderen Jugendlichen zu entwickeln.

Einen weiteren wesentlichen Faktor für das Selbstwertgefühl der Jugendlichen stellt die Abgrenzung zu anderen Gruppen dar.

"Der Prozeß der Entstehung einer Gruppenidentität ist ebensosehr durch ’negative‘ Reaktionen auf andere Gruppen, Ereignisse, Ideen usw. bedingt wie durch positive Reaktionen in bestimmte Richtungen. Eine der wichtigsten Funktionen eines subkulturellen Stils ist es, die Grenzen der Gruppenmitgliedschaft gegenüber anderen Gruppen zu definieren."15

Die Position der Rotationsgruppe in Bezug auf die Abgrenzung zu anderen subkulturellen Gruppen ist zwiespältig: Einerseits lehnen sie zwar eine Einteilung Jugendlicher in "Schubladen" ab und streben demzufolge auch nicht danach, sich von anderen abzugrenzen; andererseits benutzen sie jedoch selber klassifizierende Bezeichnungen zur Beschreibung und Einschätzung anderer Jugendlicher. Als ersten Anhaltspunkt dient die äußere Erscheinung, die vor allem durch Kriterien wie Originalität und Kreativität — die sie auch bei ihnen selber als Maßstab anlegen — beurteilt wird. Auffällig ist, daß Gruppen, die einen subkulturellen Stil leben, grundsätzlich akzeptiert und toleriert werden, wenn auch der Stil selbst den Jugendlichen nicht gefällt. Die Ablehnung erfolgt vor allem gegenüber Jugendlichen ohne sichtbaren subkulturellen Stil. Die Hauptgruppe, gegen die sich die Rotationsgruppe exklusiv definiert und an der sie ihr eigenes Überlegenheitsgefühl auslebt, ist die Gruppe der "Prolos". Der Begriff "Prolo" wird jedoch nicht im üblichen Sinn als Bezeichnung für Proletarier verwendet, sondern gilt als Bezeichnung für Jugendliche, deren als stil- und einfallslos empfundenes Äußere mit mangelnder Intelligenz und mit Gewalttätigkeit verbunden ist.

Waldemar: "Prolo ist ein abwertender Begriff — wenn jemand ziemlich gewalttätig ist und auch nicht ziemlich intelligent."

Die negativen Erfahrungen einzelner Jungen aus der Gruppe, die in eine Schlägerei mit "Prolos" verwickelt waren, werden von den anderen übernommen und als Bestätigung für den Vorwurf benutzt, daß "sie ständig Leute anmachen". Aus diesem Grund geht die Gruppe auch nicht in Jugendzentren, da sie befürchtet, dort in eine Schlägerei verwickelt zu werden.

Waldemar: "Wenn ich Leute vor dem Jugendzentrum stehen sehe, weiße Westernstiefel, Mittelscheitel, Puch — dann läßt die Begeisterung für so einen Laden nach. […] Die Leute haben nichts besseres zu tun, als ACDC zu hören und andren eins in die Fresse zu hauen."

Die Jugendzentren werden jedoch nicht nur wegen des Publikums, mangelnder Selbstverwaltung und Reglementierung abgelehnt, sondern auch, weil sie die Kreativitätsmöglichkeiten einengen.

Julia: "Ich finde es billig, von anderen die Freizeit gestaltet zu kriegen. […] Ich möchte eigentlich nicht so betreut werden."

Die Jugendlichen betonen ihre Fähigkeit, im Gegensatz zu den "Prolos" ihre Freizeit selbst gestalten zu können und etwas Produktives zu leisten. Die Abgrenzung

"[…] gegen bestimmte Gruppen manifestiert sich nicht primär in den symbolischen Aspekten des Stils (Kleidung, Musik usw.), sondern zeigt sich in der ganzen Skala von Aktivitäten, Kontexten und Objekten, die zusammen das StilEnsemble bilden."16

Lebenseinstellung und Alltagserfahrung

Die Lebenseinstellung der Jugendlichen ist typisch für die sogenannte "postadoleszente Phase".

"Diese Entwicklung begünstigt Tendenzen der Verweigerung des Erwachsenwerdens durch die Favorisierung von Lebensentwürfen, die jenseits von Lohnarbeit und Familie — welche ja die traditionellen Wege der Eingliederung der Jugend in die Gesellschaft darstellen – liegen."17

Dementsprechend entwickeln die Jugendlichen ein Lebensgefühl, das sich — wie in dem Gespräch mit dem "Mod" schon zum Ausdruck kam — folgendermaßen äußert:

Jürgen: "In-den-Tag-hinein-leben", Weglaufen vor dem Erwachsenwerden, "Pennertum mit Ideologie".

Hans-Dieter: "Geld, eine Karre, Welt in Ordnung und ein paar Freunde an der Hand."

"Verarbeitung von Alltagserfahrungen" ['Einblicke', S. 118]

„Verarbeitung von Alltagserfahrungen“ [‚Einblicke‘, S. 118]

Obwohl man bei den Jugendlichen nicht von einheitlichen Lebensentwürfen sprechen kann, besteht bei allen Vorstellungen eine Gemeinsamkeit in der Ablehnung des Spießertums", in der Betonung von Spontaneität und der Wichtigkeit von Freundschaften.

Die Negation der Erwachsenenwelt und der Versuch, sich möglichst intensiv auszuleben, ohne sich beispielsweise über die spätere materielle Existenzsicherung Gedanken zu machen, können jedoch nicht mit einer allgemeinen Orientierungslosigkeit oder "No Future"—Einstellung gleichgesetzt werden, weil die Jugendlichen für sich persönlich eine Zukunftsperspektive sehen. Obwohl sie die schlechte wirtschaftliche Lage und die geringe Möglichkeit, einen "guten Job" zu bekommen, erkennen, schätzen sie sich intelligent und fähig genug ein, ihr Ziel, einen sie persönlich ausfüllenden Beruf, zu erreichen. Nach Willis ist es eine typische Mittelschichtsvorstellung, daß man Kraft seiner scheinbar erwiesenen größeren Kompetenz und Tüchtigkeit zu betimmten Berufen befähigt ist.18

Die Vorstellung, daß die Arbeit zu der Persönlichkeitsentwicklung beiträgt, entspricht prinzipiell ihrem momentanen Anspruch auf Individualität und Kreativität.

Obwohl die Schule als "Erzfeind" bezeichnet wird und als "stumpfsinnig" und "verblödend" gilt, wird die Notwendigkeit und die gesellschaftliche Bedeutung eines Schulabschlusses auch im Hinblick auf die spätere Berufswahl erkannt.

Generell betonen die Jugendlichen die eigene Verantwortung für die spätere Lebensgestaltung und die persönliche Zukunft. Ihr Leben ist noch sehr stark persönlichkeitszentriert. Gesellschaftliche Probleme, wie z. B. die Möglichkeit eines Krieges, Umweltzerstörung, werden zwar als bedrohend, jedoch nicht als unmittelbar persönliche Probleme angesehen und daher verdrängt. Materieller Wohlstand wird zwar nicht als persönlicher Verdienst, jedoch als angenehm empfunden.

Julia: "Es geht uns supergut."

Jörg: "Wenn man nicht weiß, was man sich zum Geburtstag wünschen soll, zeigt das, daß man eigentlich schon alles hat."

Weder materielle noch politische Sorgen kennzeichnen die Situation der Jugendlichen. Es sind vielmehr persönlichkeitsbezogene Probleme, die gesellschaftlich begründet sind. Die Jugendlichen erfahren ihre Lage eher als "geistige" Notsituation. Das Bemühen, durch die Subkultur, eine eigene "Lebensphilosophie" und eine persönliche Identität zu finden, ist als Protest bzw. Provokation gegenüber unserer Massengesellschaft zu bewerten. In diesem Sinne erfüllt die Subkultur eine Orientierungsfunktion — allerdings als Scheinlösung.

Literatur

Clarke, John u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Frankfurt 1981.

DJI (Hrsg): Die neue Jugenddebatte. München 1982.

Hartwig, Helmut: Jugendkultur. Ästhetische Praxis in der Pubertät. Reinbek bei Hamburg 1980.

Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): "Jugend ’81". Opladen 1982.

Schierholz, Henning: Rockmusik und Lebensperspektiven Jugendlicher.

Willis, Paul: Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule. Frankfurt am Main 1979.

Zoff (Hrsg.): The Domestos. Flugblätter unter Nr.: BIM 7469211.


  1. Vgl. Willis 1979, S. 34.

  2. Aachener Boutique.

  3. Boutique, die amerikanische Kleidung führt.

  4. Vgl. Hartwig 1980, S. 175.

  5. Vgl. ebenda, S. 176 f.

  6. Schierholz, S. 124 f.

  7. Hartwig 1980, S. 168.

  8. The Domestos — Flugblätter unter Nr.: BIM 7469211.

  9. Hartwig 1980, S. 177 f.

  10. Vgl. Shell-Studie 1981, S. 148.

  11. Vgl. ebenda, S. 145.

  12. Shell-Studie 1981, S. 97.

  13. Vgl. Hartwig 1980, S. 172.

  14. Clarke 1981, S. 110.

  15. Clarke 1981, S. 141.

  16. Clarke 1981, s. 142.

  17. DJI (Hrsg.) 1982, s. 132.

  18. Vgl. Willis 1979, S. 91/92.

(Auch dieses Kapitel gibt’s als Scan der originalen Buchseiten zum Herunterladen.)

24. Dezember 2013

Von John Cage via UKW und Bierfront zum „Aachen Musicircus“

Filed under: 1982, Aachen in den 80ern, Aachener Untergrund, Avantgarde in Aachen, ernste Musik, Fanzine, Fluxus, Kunst & so — Dieter Antonio Schinzel @ 7:38 pm
Aachener Inszenierung der "Europeras", 2006

Aachener Inszenierung der „Europeras“, 2006

Fund im Netz, auf den Webseiten der Fachzeitschrift Die Deutsche Bühne: Ludger Engels, Regisseur am Theater Aachen, schreibt über seine Adaption von John Cages Europeras anno 2006; einer Oper, die den Musik- und Requisitenfundus diverser Opernklassiker nach dem Zufallsprinzip collagiert Dass Cage, Fluxus, Intermedia- und Performancekunst nach einem halben Jahrhundert (mit Anfängen auch in Aachen) im deutschen Stadttheater angekommen sind und dort noch für Kopfzerbrechen über die klassische Dreisparteneinteilung sorgen, finden wir übrigens nicht sonderlich interessant. Relevanter für dieses Blog ist Engels‘ kleine Verbeugung an den Aachener 80er Jahre-Untergrund einschließlich Bierfront und UKW bei einer zweiten Intermedia-Produktion, für die auch Wolfgang Müller angeheuert wurde.

(Die vom Musikwissenschaftler Volker Straebel für Aachen bearbeitete Cage-Partitur kann man übrigens hier studieren. Und hier eine Kritik der damaligen Aufführung lesen.)


Die heilige Dreispartigkeit

Der Aachener Chefregisseur Ludger Engels über sein Ganzheitsverständnis des Mehrspartentheaters

„Much of the best work being produced today seems to fall between media. This is no accident.“

Mit diesen Sätzen eröffnet 1965 Dick Higgins seinen berühmten Aufsatz „Intermedia“. Ich bin verwundert, dass wir fast 50 Jahre später immer noch die gleichen Diskussionen darüber führen, was zwischen den Sparten stattfinden darf und was nicht. Eigentlich sollten wir uns inzwischen doch selbstverständlich auch zwischen den Sparten bewegen können. Es ist aber immer noch so, das zu viele Theater ihre Energie darauf verwenden, Spartengrenzen zu verteidigen. Dabei ist das sogenannte spartenübergreifende Arbeiten an einem Stadttheater mit Musiktheater und Schauspiel keineswegs ein „Unfall“. Das durfte ich in den vergangenen sechs Jahren als Regisseur und Mitglied der Theaterleitung in Aachen erleben und mitgestalten.

Ein Beispiel aus der ersten Spielzeit 2005/2006, in der die Musiker des Orchesters über die Foyers und den Zuschauerraum bis in den Ballettsaal und die Künstlerduschen auf 48 Positionen im ganzen Theater verteilt waren: Sie spielten einzelne, oft nicht zuzuordnende Takte aus dem gesamten Opernrepertoire der Spielzeit und ließen eine bisweilen chaotisch anmutende Klangfläche entstehen. Dazwischen Sängerinnen und Sänger mit Arien, Techniker transportierten Bühnenelemente von einer Position zur nächsten, und Requisiteure legten neben dem Liszt spielenden Pianisten auf Grammophonen Schelllackplatten mit Opernaufnahmen auf. Alles und alle reagierte auf die Uhr, nach der die von Volker Straebel für Aachen eingerichtete Partitur nach Cage‘schem Prinzip ablief. Neben den Musikern und Sängern hatte jedes Kostümteil, jedes Bühnenelement und jede Lichtstimmung seine eigene Stimme für Einsätze und Positionen in der Partitur.

Das war die Aufführung von „Aachen Musicircus“ nach John Cages „Europeras 1-4“. Die Musiker verließen während der laufenden Vorstellung den Orchestergraben durch den Zuschauerraum, um ihre Positionen im gesamten Haus einzunehmen und dort weiterzuspielen. Das gleiche passierte auf der Bühne: Sänger und Techniker mit Bühnenbildelementen verließen nach und nach durch den Zuschauerraum den Theatersaal, so dass nach 40 Minuten der Graben und die Bühne bis auf eine Violinistin und eine Sopranistin leer waren und alle Saaltüren offen standen. Das Publikum konnte von nun an seinen Weg durch die entstandene Klanginstallation selbst bestimmen. Jeder Einzelne konnte für sich entscheiden, was er hören und was er sehen wollten. Der entscheidende Unterschied zum klassischen Opernabend war, dass es nicht um Interpretation ging, sondern um das Ermöglichen von Interpretation. Die Zuschauer waren es, die den Abend zu einem Ganzen formten, das Theater stellte dafür „nur“ die Bestandteile bereit. Jeder Abend verlief anders und sah anders aus.

Vernetzung in und um das Theater

Bei der Vorbereitung auf die Arbeit als Chefregisseur am Theater Aachen haben mich viele Überlegungen begleitet. Zwei Fragen traten aber immer wieder auf: Ist die Struktur des Mehrspartentheaters noch aktuell? Und wo sind die Schnittstellen und Berührungspunkte zwischen den Sparten und zu anderen Künsten? Hinzu kam die Frage nach der Vernetzung. Wie weit kann sich ein Theater in einer Stadt mit anderen Kultureinrichtungen vernetzen, und wie können gemeinsame Projekte entwickelt und aufgeführt oder ausgestellt werden? Für den Start in Aachen entschieden Michael Schmitz-Aufterbeck (Intendant), Ann-Marie Arioli (Chefdramaturgin) und ich uns gegen eine Spartenleitung in Oper und Schauspiel und – mit Marcus Bosch (Generalmusikdirektor) – für eine gemeinsame künstlerische Leitung. Diese Struktur hat Kompetenzstreitigkeiten nicht verhindert, aus meiner Sicht aber bei vielen Ensemblemitgliedern und Mitarbeitern des Hauses befördert, Theater als Zusammenwirken vieler Elemente und damit als Ganzes zu verstehen.

Mit seinen „Europeras“ zerlegt John Cage die Oper in ihre einzelnen Bestandteile und macht jedes einzelne von ihnen sichtbar und hörbar. Er verweist auf bestehende Regeln, indem er sie aber bewusst ignoriert, stellt er grundsätzliche Fragen an die Oper: Was ist Oper? Was bedeutet sie für uns heute noch? Ich habe dies zum Anlass genommen, die Frage weiter zu formulieren: Wie dehnbar ist der Begriff Oper/Musiktheater? Wo sind Berührungspunkte und Grenzüberschneidungen zu anderen Sparten? Genau an dem Punkt traten die Schwierigkeiten in der täglichen Arbeit auf. In der ersten Probe von „Europeras“ mit Orchester standen sofort einige Musiker und Musikerinnen auf, um mit großer Heftigkeit zu monieren, das Projekt sei doch Unsinn. Andere Musiker schlossen sich an. Nach einem langen Vortrag über John Cage, dem Apell an die Vielseitigkeit des Orchesters und die Möglichkeit, mit solchen Projekten neue Zuschauer anzusprechen, konnte die Probe starten. Jedem einzelnen Musiker wurde Cage und das Zufallsprinzip, seine Orchesterstimme und seine Wege zu den jeweiligen Positionen durch das Haus erklärt. Es entstand die neue und ungewohnte Situation, dass es keinen Dirigenten gab, sondern eine Uhr. In mehreren Gesprächen mit dem Orchestervorstand und mit GMD, Kapellmeistern und Repetitoren wurde dies erklärt und besprochen. Was wir nicht bedacht haben, war die Tatsache, dass für die Musiker in dem Moment, in dem sie aus ihrem gewohnten Graben herausgehen und einzeln mitten unter dem Publikum spielen, die Anonymität des Grabens und damit die ihres Kollektivs aufgehoben wurde. Nicht nur die Musiker, auch die Sänger, die ihre Arien „nur singen“ und nicht emotional darstellen durften, und die Techniker, die nach Partitur das streng formale Auf- und Abbauen von Bühnenelementen proben mussten, wurden zu „Performern“. Ich musste meine Rolle als Regisseur neu überdenken, denn es ging nicht um Interpretation, sondern um die Koordination von Ereignissen, die nicht inszeniert wirken sollten.

Herausforderung Grenzüberschreitung

Für mich war diese Arbeit eine Initialzündung. Zuschauer und Künstler trafen sich auf Augenhöhe, alle waren Gestalter des Abends. Das war die Demokratisierung des Publikums und der Sparten. Der Mensch stand im Zentrum. Es war aber auch klar, dass in dieser Form der Arbeit Zündstoff liegt. Lässt das Theater die gewohnte Zuordnung in Sparten hinter sich und begibt es sich in neue Zusammenhänge, funktionieren die erlernten und lang praktizierten Rollen, Muster, Formen und die damit gewonnenen Erfahrungen nicht mehr. Für einen Teil des Hauses ergaben sich neue Erfahrungen, andere dagegen lehnten das Experiment völlig ab. Dennoch stellte sich allmählich eine neue Selbstverständlichkeit bei vielen Ensemblemitgliedern und Mitarbeiter des Hauses ein, das Theater als Ganzes zu verstehen. Die Besucherzahlen und die Tatsache, neben unseren Abonnenten ein neues Publikum im Haus zu haben sowie die Reaktionen der Presse machten Mut, diese Arbeit weiterzuentwickeln.

Der Cage-Abend war aus einer Theatersparte heraus gedacht und hat über den Installationsgedanken die Oper geöffnet. Diesen Gedanken haben wir 2008 in dem von Volker Straebel und mir entwickelten Abend „Terror. Revolte. Glück.“ weiter verfolgt. Grundlage waren Camus` Texte „Der glückliche Tod“, „Der Mensch in der Revolte“, Tagebücher und dokumentarisches Material. „Die Idee der Installation lässt sich historisch zurückführen erstens auf einen erweiterten Begriff von Skulptur, in dem diese raumgreifend und begehbar wurde, und zweitens auf jene gestalteten Räume (‚environments‘), in denen die Vertreter des Happenings in den 1950er und 60er Jahren ihre Performances ansiedelten. Der erste Ansatz bestimmt inzwischen die Kunstwelt. Der zweite scheint fast in Vergessenheit geraten und uns schien eine Möglichkeit, ihn im Kontext von Musik und Theater zu rehabilitieren“ (V. Straebel im Programmheft).

Genau hier setzten wir mit unserem Konzept an. Der Zuschauer sollte nicht Zeuge eines Geschehens sein, sondern er sollte selber Akteur und gleichzeitig Rezipient physischer und sozialer Situationen werden. Nur so konnten unserer Ansicht nach die existentiellen Fragen nach Einsamkeit, Verantwortung und Tod von ihrer abstrakten Ebene zur unmittelbaren Erfahrung des Besuchers werden.

Wir entwickelten eine Musik-Theater-Installation für sieben Schauspieler-Innen und sieben SängerInnen, den Opernchor und das Orchester, schufen vier große Module, die jeweils eine Grunderfahrung Camus‘ beinhalteten. Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Ric Schachtebeck entwarfen wir dazu Rauminstallationen, welche die Zuschauer vor (Bild aus fließendem Wasser) oder in Situationen stellte (ein großer Käfig, in den die Zuschauer unvorhersehbar geführt wurden), und platzierten diese Module an verschiedene Spielstätten im Haus. In vier Gruppen eingeteilt wurden die Zuschauer parallel durch die einzelnen Stationen geführt. Für die Wege zwischen den Stationen gewann ich den Videokünstler Aernout Mik mit einer Videoinstallation und Wolfgang Müller von der Tödlichen Doris mit Videoarbeiten. Begleitende Ausstellungen der beiden Künstler fanden im Neuen Aachener Kunstverein und dem Ludwig Forum für Internationale Kunst statt.

Aus der Sicht der Theaterleitung war „Terror. Revolte. Glück.“ ein Erfolg. Es funktionierte hervorragend, den Abend in beiden Sparten dem Publikum und den Abonnenten als Premiere am 6. Dezember 2008 anzubieten. Durch die Vernetzung mit den Museen und die Anbindung an Stadtgeschichte – der legendäre Punk Club UKW und die Punkzeitung Bierfront in Aachen standen Pate für Formen der Revolte – kamen Besucher zu den Aufführungen, die wir bisher nicht im Theater gesehen hatten.

Widerstände außerhalb des Theaters

Wir mussten aber erfahren, dass sich nicht nur das Theater mit der Öffnung der Spartengrenzen schwer tut, sondern auch die Medien. Einige schickten keinen Rezensenten. Begründung: Auf der Einladung stand nicht eindeutig Oper, Schauspiel oder Tanz – und für diese „Zwischendinger“ hätten sie keine Mitarbeiter. Kunstzeitungen lehnten es ab, Veranstaltungshinweise in ihren Kalender aufzunehmen. Hier die Begründung: Das sei ja Theater.

Als Regisseur war ich wieder einmal überrascht, wie in der Probenarbeit jeder an seiner Sparte festhält. Schauspieler tun sich schwer, Texte auf Zeichen des Dirigenten zu sprechen, Sänger gleichzeitig zum Text des Schauspielers zu singen, Musiker verteilt im Zuschauerraum zu spielen, und Dirigenten, den Zeiger einer Uhr gestisch nachzubilden, auch wenn die Partitur dies fordert. Ich verstehe, dass viele Künstler nicht die Erfahrung machen konnten, mit und in anderen Künsten zu arbeiten. Mir fällt es aber immer schwerer zu akzeptieren, dass es Künstler und besonders Theatermacher an einem Mehrspartenhaus ablehnen, diese Herausforderung anzunehmen.

Gründe dafür sehe ich unter anderem in der Ausbildung. Die Hochschulen arbeiten nach wie vor auf der Basis der klassischen Trennung von Sparten. Als Hochschullehrer führe ich mit Studenten immer wieder Diskussionen über Notwendigkeiten wie: Warum einen Text zu einem Lied lesen? Oder darf man zwei verschiedene Texte oder Musikstücke aneinander hängen? Die erste Frage ist immer: Gibt es einen Grund, eröffnet es eine neue Sicht? Bei den Studenten gibt es häufig einen Aha-Effekt, sobald sie aus solchen Experimenten neue Erfahrungen über eine Musik oder einen Text mitnehmen können. Erschreckend dagegen ist die Ignoranz von Lehrenden gegenüber anderen künstlerischen Ausdrucksformen als denen des eigenen Fachs. Einen interessanten Ansatz verfolgt die Toneelacademie in Maastricht, die gerade den Masterstudiengang „interdisciplinary arts“ („i-arts“) eingerichtet hat. Und daneben richtet sich der Studiengang „theatrical performer“ an Studenten, die sich nicht in dem klassischen Format des Regie- oder Schauspielfachs sehen. Meiner Ansicht nach müssten die Hochschulen die Studiengänge durchlässiger gestalten und den Zeitgeist, das Lebensgefühl einer Generation widerspiegeln, die nicht mit den Klassikern groß geworden ist. Der veränderte Zugang zu Musik, Sprache und Bewegung und die damit veränderten Ausdrucksformen müssten in das Studium der klassischen Fächer stärker einbezogen werden. Das ist bisher die Ausnahme. Eine enge Zusammenarbeit von Kunst, Musik- und Schauspielakademien und Hochschulen sollte angestrebt werden.

Ich versuche, bekannte Stücke, Themen, Texte und Musik thematisch in neue Zusammenhänge zu stellen. Die Mittel sind unter anderem die Gegenüberstellung und Verschmelzung oder die Kontrastierung von Sprache und Musik, Bewegung und bildender Kunst. So versuche ich, die Aufmerksamkeit auf den Kern eines Themas oder Werkes zu lenken, und Bekanntes in einen neuen Rahmen zu stellen. In den Arbeiten mit anderen Künstlern habe ich erfahren, dass es dabei nie um einen Verlust von Profession oder Eigenständigkeit des Künstlers geht, sondern immer um einen Zugewinn und eine Chance für neue Erkenntnis.

Das Projekthafte und Spartenübergreifende ist längt nicht mehr das Primat der freien Szene. In vielen Städten gehört es zum Alltag des Theaters, dass Laien in Clubs Theater machen und Stadtteilprojekte mit Jugendlichen stattfinden. In Aachen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass gemeinsame Premieren in Oper und Schauspiel auf dem Spielplan stehen. Demnächst hat nach „Fairy Queen“ und „Der eingebildete Kranke“ das Barockprojekt „King Arthur“ für Schauspieler und Sänger Premiere. In den vergangenen Jahren haben regelmäßig Künstler wie Gintersdorfer/Klaßen und Hans-Werner Kroesinger hier gearbeitet. Sänger, Schauspieler und Orchestermusiker treffen sich zu Impro-Abenden und entwickeln 24-Stunden-Performances. In Kooperation mit der Toneelacademie in Maastricht, dem niederländischen Festival Cultura Nova, der freien Bühne Theater K und Theater Aachen ist eine kleine Plattform entstanden, auf der sich jeweils zu Spielzeitbeginn in einer langen Nacht „performing arts“ mit „performance art“ verbindet.

Theater für eine vernetzte Welt

Das ist so, weil wir Theatermacher neben der Pflege des Repertoires Verantwortung als Impulsgeber für neue Formen des Theaters übernehmen müssen. Die Ressourcen sind da, und den Raum und die Mittel sollten wir zur Verfügung stellen. Notwendig auch deshalb, weil ich im Theater die Möglichkeit sehe, die Positionierung des Einzelnen innerhalb und gegenüber einer total vernetzten und völlig globalisierten Welt zu thematisieren. Deshalb kann sich ein Theater der Zukunft nicht mehr in den engen Grenzen überkommener Spartenbegriffe bewegen. Es soll und muss alle Formen der darstellenden und bildenden Kunst sowie der Musik in sich aufsaugen, sie aufeinanderprallen lassen und in Beziehung zueinander setzen. Der Standort des Theaters ist der Punkt, an dem globale wie lokale Einflüsse aufeinander treffen, es ist ein Ort für Austausch, Diskussion und Entwicklung neuer Stoffe, Stücke und Ästhetiken. Also sollte das Theater Visionen und Utopien, Modelle und Strategien für ein Leben in der Zukunft aufzeigen, Gegenwärtiges und Vergangenes reflektieren. Das Theater als soziale Skulptur im Zentrum der Stadt.

Einblicke, Folge 2: Aachener „Jugendkneipen“ ’82/83

Einblicke - Buchcover

Weiter geht’s mit unserer Ausgrabung der soziologischen Einblicke in Aachener Jugend- und Subkulturen anno ’82/83 von Peinhardt-Franke & Kolleg/inn/en. Im folgenden Kapitel (Buchseiten 87-104) geht’s um Aachener „Jugendkneipen“ der damaligen Zeit. In der als „VC“ abgekürzten Kneipe begegnen wir den Punks wieder, die den Autoren schon früher zugesetzt hatten.

Frage an unsere Leser: Wer hilft uns, die Codes der genannten Lokale zu entschlüsseln? Vorläufig tippen wir auf:

  • „Ra“ = Ratskeller? Charly’s Reichsapfel
  • „RF, ehemals V.“ = Raumfrisch, ehemals Vanilla
  • „Ri“ = Ritz
  • „U.“ = UKW
  • „VC“ = ?

Es folgt das vollständige Kapitel, unverändert bis auf unsere stillschweigenden Korrekturen von „Steve Marley“ zu Steve Harley sowie des penetrant wiederholten Rechtschreibfehlers „intergriert“. Auch ein Scan der Buchseiten kann heruntergeladen werden.

Jugendkneipen — ein Vergleich1

Carmelita Lindemann, Wolfgang Malter‚ Ingrid Peinhardt, Luc Walpot

Aachen ist eine Kneipenstadt, es gibt kaum einen Erwachsenen, der nicht eine Kneipe seines Geschmacks hier findet. Diese bunte Vielfalt spiegelt sich auch in Jugendkneipen wider. Exemplarisch haben wir einige herausgegriffen, Beobachtungen und Interviews gemacht.

Wir haben dabei festgestellt, daß neben der "Kneipe als Lebensqualität" die Kneipe für Jugendliche noch eine ganz andere Funktion hat: nämlich die, überhaupt einen sozialen Ort zur Verfügung zu haben, der als Kommunikationsstätte, Infotreff, Freiraum jenseits der Kontrolle von Eltern, Pädagogen, Chefs etc. sowie als "Laufsteg", als "Bühne" für die neueste Kreation der eigenen Persönlichkeit dient. Zudem bietet die Kneipe die Möglichkeit, mit dem anderen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Dies gilt für alle Jugendkneipen, so unterschiedlich sie von ihrer Ausstattung, ihrem Wirt, ihrem Publikum, ihrer Musik, ihrer Atmosphäre etc. sind. Kneipen bieten die Möglichkeit, subkulturelle Verhaltensstile auszutesten, Intensität zu erleben (Personality-Show, Musik, Alkohol/Kommunikation), sich über die Nutzung von Medien (Musik, Fernsehen/Video) und Elektronikspielen, in manchen Kneipen auch Tanzen, zu entstressen.

Jugendkneipen sind wie subkulturelle Stile/Freizeitstile Moden unterworfen. Dieser Wandel schlägt sich nieder in der Ausstattung — manche Kneipen werden stilmäßig jedes halbe Jahr gewandelt — und im Publikumswechsel, der häufig abrupt und schwerlich ergründbar ist. Plötzlich ist die Kneipe nicht mehr "in".

Jugendkneipen als Ausdruck subkultureller Stilvielfalt

Jugendkneipen kennzeichnet ein jugendliches Publikum — altersmäßig. Sonst nichts. Denn so breit wie die Palette der Stile, auch der nur versteckt angedeuteten oder arg verflachten, so breit ist auch die Palette der Kneipen. Aktuelle Musik wird überall gehört, Spielgeräte und Videos gibt es fast überall. Gymnasiasten, Studenten, Azubis, Jungfacharbeiter, arbeitslose Jugendliche gibt es fast überall. Was also ist los in den Kneipen und was unterscheidet sie voneinander?

Das U2 z. B., in der Aachener Innenstadt gelegen, erinnert eher an eine Metzgerei denn an eine Kneipe. Kühl gekachelt bis unter die Decke, helle Neonröhren: hier bleibt nichts verborgen, verstecken, verkriechen kann sich hier keiner. Hinter der langen schmalen Theke stehen zurechtgemachte "Bedienungen", cool und perfekt wie Schaufensterpuppen. Die neue coolness. Jango Edwards nennt sie "coolarity". Die Besucher sind ebenso perfekt gestylt wie die Damen hinter der Theke, so wie sie hinter ihren mit Orangen und Zitronen gefüllten Aquarien schweigen, schweigen die Besucher über ihren Mixgetränken in knalligen Farben. Die Mädchen im Stil der 50er Jahre — teils mit Pferdeschwänzen, Petticoats, Cocktailkleidern, Lidstrich und Haarspray, Pfennigabsätze. Die Jungs als Kavaliere, gut erzogene Söhne. Die coolness färbt ab, gelacht wird hier nicht; die große personality-show, die Vorführung perfekter Stile, ist nicht lustig.

Z.: Im U, da stehst du immer an ner Bühne, im U, da ist es sehen und gesehen werden …3

Ab und zu tauchen Punks hier auf, sie bringen etwas Leben mit. Aber sie bleiben unter sich und hören die gleiche Musik wie die Stammgäste: ganz einfach englische Charts. Manchmal findet ein Konzert statt: Trio z. B. war hier, als die Gruppe noch ein Geheimtip war, oder Blurt (Avantgarde Jazz-Punk aus London). Dann wird die Kneipe voll mit Besuchern, die ebenfalls einen Stil pflegen — einen modischen, versteht sich — und Musikern der so zahlreichen Aachener Jazz- und Rockbands. Die Elite, die Snobs treffen sich hier.

['Einblicke', S. 101]

[‚Einblicke‘, S. 101]

Raumfrisch 2

„Diese Kneipe heißt Raumfrisch, weil solche Sachen den Raum frisch machen.“ [‚Einblicke‘, S. 101]

Das RF, ehemals V, ebenfalls in der Innenstadt gelegen, hat eine lange Tradition für "ausgeflippte" Jugendliche. Ehemals ganz in weißem Plastik gehalten, steriler als eine Eisdiele, mit Video und Milchmixgetränken, zog sein buntes, auffallendes Publikum (Schüler, Studenten, Azubis, Arbeitslose) überwiegend nach 1 Uhr nachts an. Dann, wenn "normale" Kneipen schließen und die Bürger nach Hause gehen, fängt der "Flip" erst richtig an. Bananashake oder Kakao in weißen Tassen, an die weiße Wand gelehnt oder sitzend in weißen Gartenstühlchen, wurde auf die Mattscheibe gestarrt: "Dschungelbuch" von Walt Disney war der beliebteste Film.

Heute, als RF, ist die Kneipe in Pastelltönen gestrichen wie Küchenmöbel der 50er Jahre. Rosa, hellblau und ein helles Gelb sind dominant und verteilt über Decken, Wände, Möbel — originale alte Küchenmöbel, kleine Regale, Gläser, Lampen, die Küchengeräte für die Mixgetränke, die Dekoration an den Wänden: alles original 50er Jahre.

An der Theke, wie überall in den Kneipen, stehen Angehörige von Bands, ca. 18 bis 25 Jahre alt. Sie trinken um 23 Uhr hauptsächlich Kaffee mit Cognac oder Milchgetränke — weniger Bier. Die beiden Jungens hinter der Theke sind schmal, kurzhaarig, vom Stil her "sportlich-avantgardistisch", auffällig bebrillt (wie die letzte Brille von John Lennon), freundlich und kommunikativ. Blicke werden ausgetauscht, Gespräche, Lachen. Die Musiker sind ähnlich kommunikativ. Passend zur Einrichtung läuft tatsächlich eine Platte von Peter Kraus.

An kleinen Tischen entlang des Schaufensters sitzen die Punks in kleinen Grüppchen eng beisammen. Sie haben hier eine neue Bleibe gefunden für ein paar Wochen. Die Musik stört sie nicht. Später läuft eine Platte von David Bowie, sie wird gebührend besprochen. Im Hinterzimmer, das gut einsehbar ist, steht ein Tischkicker. Keiner kickert.

Das CD sieht aus wie eine Garage, an deren Wänden Spielautomaten und Flipper dicht bei dicht aufgestellt sind. Alles ist schwarz gestrichen, drei kleine Tische mit Stühlchen gegenüber der kahlen Theke. Dahinter ein müde aussehender, schwarz gekleideter Mensch. Er ist allein in der Kneipe, bis kurz nach 1. Dann finden sich hier lederbejackte, angepunkte oder sonstwie stilpflegende Jungs ein, Mädchen sind in dieser Kneipe noch weniger als sonst, jetzt beginnen die Flipper und Spielautomaten zu rattern – beim Bier. Eine Mischform zwischen Kneipe und Disco stellt das Ri dar, es ist gemacht wie eine Grotte. Auch hier viele Musiker an der Theke, Schüler und Azubis finden es hier "schick". Ab und zu spielt eine lokale Rockband hier. Das Publikum ist apathisch beim Konzert einer englischen Spitzenband (Classix Nouveaux). Der Diskjockey fordert das Publikum auf, doch zu applaudieren, wenn es eine Zugabe hören wolle.

Z.: das Ri, das ist aber auch schlecht geworden …

Integrationsstilkneipen

AUSVERKAUFT

Aachen. (til) — Der "Rockpalast" in Euchen zählt zur Zeit wohl zu den größten und schönsten Live-Läden der Republik. Im Gegensatz zu manch anderen, vergleichbaren Läden, bei denen man nicht selten das Gefühl hat, in einer Wartehalle zu stehen. Fast alle Konzerte waren bisher "Ausverkauft". Unter anderen gastierten Nena, Zeltinger und "Extrabreit" im "Rockpalast". Das "Odeon" in Alsdorf hat im Übrigen auch wieder geöffnet. (city 1/83)

['Einblicke', S. 102]

[‚Einblicke‘, S. 102]

"...einer der größten und schönsten live-Läden der Republik" ['Einblicke', S. 102]

„…einer der größten und schönsten live-Läden der Republik“ [‚Einblicke‘, S. 102]

Seit einigen Monaten gibt es den Rockpalast in Euchen (Würselen-Euchen bei Aachen). Der Rockpalast, eine ehemalige Landgaststätte mit einer Kapazität von ca. 1200 Personen ist derzeit die Attraktion weit über den Aachener Raum hinaus mit Bühne, Riesentanzfläche, Lightshow etc. Dunkelblau gestrichen wie ein Aquarium, fensterlos mit roten Kronleuchtern und Stühlen hat er den touch des Selbstgemachten — "bricolage" auch hier Element der Gestaltung. Der Einzugsbereich der "Stammgäste" reicht bis zu ca. 60 km, allein die Aachener müssen schon 10 km zurücklegen. Hier trifft sich alles, was an Veranstaltungen mit aktuellen Bands teilhaben will: Jugendliche aus der Eifel, Studenten aus Aachen, Schüler, Lehrlinge, Jungarbeiter, Musiker und Künstler aus allen umliegenden Städten und Dörfern, dazu ebenso heterogenes Publikum aus dem nahen Belgien und den Niederlanden. Das Alter der Rockpalastbesucher reicht von ca. 14 bis 40 Jahren. Hier findet sich — ähnlich wie im VC — das völlig unproblematische Miteinander verschiedener subkultureller Stile. Vielleicht deshalb, weil sie hier alle im gleichen Konsum/Kommerzzusammenhang stehen? Der Wirt dieser Kneipe ist bereits 70 Jahre alt und steht jeden Abend "im Trubel". Er hat auf Empfehlung seiner Kinder den Rockpalast aufgemacht — sie haben die Marktlücke im Aachener Raum gesehen.

Das Spuugh (sprich: schpüch) in Vaals hat ähnlich integrierenden Charakter über ähnlich gelagerte Angebote.

SPUUGH!

Aachen. (til) — Etwa einen Kilometer hinter der Grenze liegt auf holländischer Seite in Vaals der Jugendclub "I.T.C. Spuugh". In dem Jugendclub, der ca. 600 Leute faßt, werden auch in diesem Jahr zahlreiche Rockveranstaltungen über die Bühne gehen. "Brainbox" und Hermann Brood, der immer noch zu den besten Live Acts aus Holland gehört, bestritten im ausverkauften "Spuugh" die beiden Eröffnungsveranstaltungen dieses Jahres. In den nächsten Monaten kommen u. a. "Doe Maar", "Dead Kennedy" "Staff" und Jango Edwards in den Club. Die Preise in diesem Laden sind übrigens einsame Spitze. Geringe Eintrittsgelder, Bier und Cola (u. a.) für 1,10 Gulden, ein halbes Baguette, gut belegt, kostet gerade 2,25 Gulden. Auf ins "Spuugh": Tel. 0031/44543457. (City 1/83)

Der Rockpalast hat die erfolgreiche Nachfolge des ehemaligen Odeon in Alsdorf (Bergbaustadt bei Aachen) angetreten, das im gleichen Einzugsbereich lag.

Odeon Alsdorf

Immer, wenn geöffnet ist

Sehr wahrscheinlich wird – nach einem guten halben Jahr Bestehen – das ‚Odeon‘ in Alsdorf (siehe KLENKES 12/81) in seiner bisherigen Form schließen müssen. wegen mangelndem Lärmschutz. Für die Jugendlichen dort geht damit eine wichtige Kommunikationsstätte verloren,

Roland Temme, Mitbesitzer des ‚Odeon‘ und Manfred und Guido, zwei Stammgäste berichten.

Roland Temme: Für Alsdorf ist das Odeon ein Kulturzentrum insofern, als es sonst nichts dort gibt, wo Live-Auftritte stattfinden. Das Odeon spricht Leute an, für die das nächste vergleichbare vielleicht der ‚Dschungel‘ (Discothek in Richterich) ist. Das Publikum ist ziemlich gemischt, von Punkern über Otto Normalverbraucher, Freaks Flippis. Die meisten Leute sind so zwischen 18 und 25, wenige darunter. Eigentlich wollte ich nur ’nen Musikclub aufmachen, wo Bands spielen können, der Raum hier in Alsdorf hat sich so ergeben. da habe ich erst gemerkt, wie wichtig so eine Einrichtung gerade für Jugendliche im EBV-Einzugsbereich ist, Wegen dein mangelndem Lärmschutz durften jetzt keine Live-Auftritte mehr stattfinden — es war echt laut oft — nur Disco, und das ist natürlich für die Jugendlichen wie für mich völlig uninteressant.

Manfred und Guido, beide 19 Jahre alt. Stammgäste im Odeon. Manfred arbeitet als Maschinenschlosser bei EBV, Guido ist BAS-Schüler. Beide stammen aus Siersdorf.

Klenkes: Wie häufig geht ihr ins Odeon?

M: Immer wenn’s geöffnet ist, im Moment sind das so 3-4 Male in der Woche, früher täglich.

K: Warum geht ihr gerade ins Odeon?

M: Da gibts gute Musik.

G: Relativ gute Musik, würde ich sagen, bis auf den Punk. Punk ist mir zu blöd.

K: Was läuft denn so?

G: Cola trinken, andere Leute treffen, was planen, tanzen.

M: Wir treffen Cliquen. Ganz unterschiedliche Leute kommen da zusammen: Schüler, Arbeitslose, Frührentner, Azubis…

K: Wo liegt der Unterschied zu anderen Kneipen?

G: Im Odeon ist keine Disco-Atmosphäre. Es gibt Auftritte von Gruppen, wie sonst nur in Aachen oder Stolberg.

M: Und es sind auch meistens keine Studenten da. Die machen so lahme Atmosphäre. Im Dschungel ist das so.

G: So richtige Stimmung kommt allerdings erst so gegen 12 (nachts) auf.

K: Sind viele Mädchen im Odeon?

G: Nach 10 Uhr sind das mehr Jungen. Vorher sind die Mädchen in kleinen Grüppchen da, sitzen rum, versperren einem die Sicht.

M: … wenn die action losgeht, so um 12, dann sind nur noch wenige Mädchen da mit ihren Typ.

K: Wohin geht ihr, wenn das Odeon zumacht?

M: Dann müssen wir uns wieder was Neues suchen und wieder sehr weit fahren. Von Siersdorf zum Odeon sind es 6km hin und zurück, zum Dschungel, wo wir vorher oft waren, 30!

KLENKES 4/82

Die Kneipe als Kommunikationszentrum

Die Kneipe VC liegt ebenfalls in der Aachener Innenstadt. Sie besteht aus einem schmalen, langgezogenen Raum, die Wände einfach und dunkel holzvertäfelt. Vorne, direkt gegenüber der Tür, die Theke, schummerig beleuchtet. Im hinteren Teil des Raumes ein großer langer Tisch mit Stühlen, in der Ecke noch eine kleine Sitzgelegenheit. Auch hier nur schwache Beleuchtung. Ein Flipper und ein Spielautomat fallen wegen ihrer Buntheit gleich auf, ebenfalls auffällig in dem Dunkel ist das fast ständig laufende Video. S.‚ der Wirt, dreißig Jahre alt, ist Gitarrist einer Band und "verkrachte Existenz". Er trägt als einziger in der Kneipe sein Haar als "Mähne". Er integriert die verschiedenen subkulturellen Stile, die in seiner Kneipe zusammenkommen. Regelmäßig, manche jeden Abend, sind da: die Punks als größte Gruppe, eine Motorradclique, eine Gruppe von "Avantgarde"-Musikern, eine Gruppe von Rockmusikern (Freunde des Wirts bzw. Mitglieder seiner Band) sporadisch die Rockergruppe X — alle ca. 17 bis 22 Jahre alt — sowie ein sehr bunt gemischtes Spätpublikum aller Altersgruppen und Leute aus der unmittelbaren Nachbarschaft.

Alle Kneipenbesucher außer den Punks sind eher proletarische Jugendliche, zum größten Teil in der Ausbildung, kurz nach der Ausbildung oder arbeitslos. Die auffallendste der genannten Gruppen sind die Punks,4 die sich in der Kneipe sehr frei bewegten: sie gingen rein und raus, immer unter Gejohle und Gelächter, lümmelten sich auf dem Bürgersteig, kamen durch das geöffnete Fenster wieder rein und gingen so auch wieder raus, Völlig ungehindert durch den Wirt oder sonst jemand. Die "Avantgarde"-Musiker stehen — wie in anderen subkulturellen Kneipen auch – an der Theke. Sie sind blasiert, arrogant und reden nur leise unter sich in der Kleingruppe.

Die Rockmusiker spielen gerne mit und ohne Wirt an den Spielgeräten. Sie sind auch sonst lebhafter als die "Avantgarde"-Musiker und flachsen rum. Die Motorradclique verhält sich ähnlich wie die Punks: genauso albern und laut.

Zwischen beiden Gruppen besteht ein reger Austausch: sie kennen sich gut und haben sich viel zu sagen.

Die Rockergruppe X verhält sich sehr zurückhaltend, wenn sie überhaupt erscheint. Das Spätpublikum ist ebenfalls an der Gestaltung der Atmosphäre nicht beteiligt.

I.: Was gefällt dir an der Kneipe so gut?

R. aus der Motorradclique: Gefällt??? Ja, daß ich mich hier … ja nicht, ehrlich nichts.

I.: Ja, wenn dir hier nichts gefällt, dann gehst du hierhin wegen der Leute?

R.: Nee, wieso, die haben doch sowieso einen Dachschaden.

I.: Auch die hier … (zeigt auf die Umstehenden) …?

R.: Nee, nee, äh… . der S. (Wirt) nicht … Der ist in Ordnung, bis daß in dem Bier seine Haare sind, ab und zu mal… (Gelächter)

Nee, ich fühl mich lieber da wohl, wo ich an der Theke pennen kann als in so einer Jägermeisterkneipe.

I.: Was für eine Kneipe‘?

R.: Jägermeisterkneipe!

… Gelächter

I.: Was ist denn das für eine?

X.: Wo nur Theken-Opas rumhängen, uähh.

I.: Da gibt es so eine neue Kneipe, die heißt Ra‚ die müßtet ihr doch eigentlich auch kennen … die müßte doch dem entsprechen, was ihr gesagt habt.

Durcheinander: Wo denn? Am Markt? Ach dieses dumme Ding da …

R.: Ach da, ich wollte mich da mal echt eine Stunde vorstellen, das ist nämlich besser als im Kino5 da … Ich hab mal ’n paar Leute rauskommen und reingehen sehen … zur Zeit habe ich keinen Bock mehr …

Musik

Musikgebrauch spielt im VC eine sehr große Rolle. Das Publikum — d. h. die Angehörigen der Gruppen Punks, Rocker, Rockmusiker — legt sich im wesentlichen seine Platten selbst auf – die Auswahlmöglichkeiten sind groß. Viele unterschiedliche Stile und Interpreten werden gleichberechtigt gehört. Oft werden auch Cassetten gespielt, die einzelne mitbringen. Fast allabendlich wurde S.‚ der Wirt, mit bestimmten Musikwünschen geärgert, z. B. mit dem Ruf "Motörhead"! — die Rocker wollten Motörhead hören. Diese Musik ist für die sensiblen Ohren des Wirts Krach.

Solch ein Provokationsversuch sollte den Toleranzspielraum testen, den S. insbesondere den Punks und den Rockern einräumte. S. verhielt sich jedoch so geschickt, daß er sein Image nicht verlor (vgl. subkulturelle Verhaltensspielregeln).

Kurz und gut: es ging zu wie in einem gut funktionierenden Kommunikationszentrum. Angesichts des "Sprengpotentials" des Publikums kann man hier durchaus von Sozialarbeit am Tresen sprechen.

Fernsehen / Video

Parallel zu der gespielten Musik war der Fernsehapparat ständig eingeschaltet. Gezeigt wurden in der Regel Musiksendungen, d. h. Videobänder mit Aufzeichnungen des Rockpalasts u. ä. sowie eigene sessions, also durchweg Filme, die aus dem Erfahrungsbereich der Jugendlichen selbst stammten. Manchmal schaltete S. eine Fernsehsendung ein, drehte den O-Ton ab und ließ eine Platte dazu laufen. Die Effekte bereiteten allen viel Spaß.

Ähnlich "verarbeitet" werden neuerdings gezeigte Eastern—Kung Fu-Filme: das Publikum spielt einfach mit!

Eine Kneipe im Detail:

Ebenfalls eine Jugendkneipe und doch völlig unterschiedlich ist das Ra, eine Kellerkneipe direkt am Markt im Zentrum Aachens. Im Frühjahr 82 — als unsere Arbeit begann — neu aufgemacht, im Stil der Neuen-Deutschen-Welle. Giftig—grün-gelb in Plastikfolie diagonal gestreifte Wände, grüne und gelbe plastikbezogene Barhocker, die Theke in dem kleinen Raum rechteckig rundumschließend in der Mitte. Ein schmaler Gang ringsum, grüne Neonröhren als Beleuchtung, viel aluverkleidetes Gitter von der Decke — Sand auf dem Boden als einziges "natürliches" Element in der Kneipe. Die Räumlichkeiten vermitteln also auch wie die anderen Kneipen keine "Gemütlichkeit". Zwei elektronische Spielgeräte stehen dem Publikum zur Verfügung. Die Musik ist gemäß dem Stil der Kneipe Neue-Deutsche-Welle. Das Publikum ist ein bißchen jünger als in den anderen, so ab 16-jährige sind hier. Das Anfangspublikum ist tatsächlich die vom Wirt angepeilte Zielgruppe: finanzkräftige junge Leute, die auf Neue Deutsche Welle "stehen" und gern in eine kleine, exklusive Kneipe mit exklusiven Getränken gehen. H., der Wirt: "Der Trend geht weg von Alt und Kölsch." Das Ra als eine Art Anlaufstelle mitten in der Stadt, wo man sich auf ein Guinness trifft und von dort in den weiteren Nachmittag oder Abend startet.

Mit diesem Konzept zeigte sich in den ersten Wochen ein gewisser Achtungserfolg. Doch das Zielpublikum blieb zunehmend aus. Es wurde leerer. Um die Kneipe wieder zu füllen, schaffte der Wirt ein Videogerät an, mit dem er allabendlich um 23 Uhr einen Kinofilm des Genres Horror/Abenteuer/ Krimi u. ä. zeigt.

Die Zusammensetzung der Gäste änderte sich schlagartig mit dem neuen Angebot. Es waren nun gegenüber früher Schülern und Angestellten hauptsächlich Azubis, Berufsschüler und Facharbeiter, die auf der Suche nach (für sie) neuen Kneipen zufällig auch ins Ra gerieten. Sie, ca. 18-22 Jahre alt, kommen in kleinen Cliquen oder treffen sich hier. Rein äußerlich pflegen sie keinen besonderen Stil. Videogucken und Spielen an den Geräten sind zentrale Aktivitäten.

Video

F.: Was meint ihr, warum die meisten Leute sich hier zu später Stunde Thriller, Zombiefilme und Actionfilme anschauen?

Wi.: Die erleben das doch auch. Geh mal Samstag abends ins "Roxie"‚6 da kriegste das alles live mit.

Die meisten kommen nur, um sich die Filme hier anzuschauen. Wir würden auch lieber "Tom und Jerry" oder "Donald Duck" sehen!

Wi.: Die wollen eben sowas sehen. Vielleicht weil sie es tagsüber auch erleben.

F.: Und was treibt euch sonst noch um viertel vor elf ins "Rad"?

D.: Die Leute hier. Die meisten kennen sich untereinander, und dann kommen noch die dazu, die nur mal kurz reinschauen wollen und dann wieder gehn. Unsre Gruppe trifft sich hier einfach, um zu quatschen. Wenn ich abends von Arbeit und Schule hierhinkomme, weiß ich immer: jetzt sitzt der und der da.

F.: Und daß gleich das Video anfängt und dann die ganze schöne Unterhaltung hier zum Teufel ist ist, stört dich nicht?

Wi.: Die meisten Leute kommen ja doch ‘nur einzig wegen dem Video. Ne viertel Stunde vor Beginn ist der Laden brechend voll, und wenn der Film aus ist, können die Jungs hinterm Tresen gar nicht schnell genug kassieren, so eilig haben es die Leute. Wenn das Video nicht wär, ging dem H. (Wirt) viel Geld durch die Lappen.

F.: Aber Fernsehen und Filme anschauen können die Leute doch auch zu Hause, oder? Dazu müssen sie nicht extra hierhin kommen?

Wi.: Die wollen das aber zusammen machen. Bier trinken und zusammen sitzen können sie überall.

F.: Weißt du denn, welcher Film heute abend läuft?

P.: Ich glaub, n’ James Bond oder’n anderer Krimi.

F.: Stehst du denn da drauf?

P.: Nee, aber besser als sonstwo rumhängen. Außerdem hab ich noch keine Lust nach Hause.

Spielautomaten

"KILLERAUTOMAT - TEUFELSAUTOMAT?" ['Einblicke', S. 103]

„KILLERAUTOMAT – TEUFELSAUTOMAT?“ [‚Einblicke‘, S. 103]

"'... an manchen Tagen, da komm ich einfach nicht vom Spiel weg...'" ['Einblicke', S. 103]

„‚… an manchen Tagen, da komm ich einfach nicht vom Spiel weg…'“ [‚Einblicke‘, S. 103]

F.: Scheint dich ja richtig zu faszinieren, dieser Apparat (Wi. starrt gebannt auf den Bildschirm eines der beiden Spielroboter, spielt aber nicht).

Wi.: (zuckt mit den Schultern) Manchmal schon.

F.: Also mir wär da das Geld zu schade!

Wi.: An manchen Abenden werf ich da 15 Mark rein.

F.: Ist das denn die einzige Möglichkeit, deine Zeit hier zu verbringen?

Wi.: Manchmal mein ich, das Ding wär Magie.

F.: Es zieht dich wohl magisch an. Ist es mehr die Elektronik oder das Spiel, was dich so fasziniert?

Wi.: Kann ich dir echt nicht sagen, an manchen Tagen, da komm ich einfach nicht von dem Spiel weg; da sag ich zu meinem Freund: Werner, hau mir eins kräftig auf die Finger, wenn ich’s wieder mal nicht lassen kann (grinst) …

F.: Was muß man denn da eigentlich so machen?

A.: Tja, die kleinen Käfer müssen die Früchte essen. Dafür gibt’s Punkte. Später kommen die großen Krabben. Dann wird’s erst richtig schwierig.

F. : Geht wahnsinnig schnell bei dir, spielst wohl oft an dem Gerät?!

A.: Vor vier Wochen hab ich das Ding hier zum ersten Mal entdeckt. Seitdem spiel ich, oder besser wir, fast jeden Abend.

F.: … mit wachsender Begeisterung offensichtlich?!

A.: Irgendwie kommt man von dem Ding nicht los. Jedes Mal, wenn ich rein komm, nehm ich mir vor: diesmal machst du’n großen Bogen um die Kiste, und wenn ich dann später wieder rausgehe, hab ich meistens 5 Märker und mehr dringelassen.

F.: Na, auf die Dauer ein teurer Spaß, was?

Achselzucken, das Gespräch ist aufgrund des "Eifers im Gefecht" eine Weile unterbrochen, dann:

F.: Was meinst du denn selbst, warum der Apparat eine, sagen wir, magische Anziehungskraft auf dich ausübt.

A.: Die Frage hab ich mir, verdammt noch mal, auch schon öfters gestellt. Ich glaub, irgendwie möcht ich mal beweisen, daß ich besser bin, als der Apparat, ein Freispiel gewinne und ne ganze Stunde für eine Mark spielen kann …

F.: Und spielen kann man das nur im ‚Rad‘?

A.: Ne, das gibts noch woanders (nennt den Namen einer Spielhölle).

Abgrenzungen

Insgesamt erwiesen sich die Besucher als nicht sehr gesprächig und mitteilungsbedürftig, die Interessen gelten mehr dem Video und den beiden Spielgeräten und ihrer Clique. Die Gruppe von 8-10 Jungs hat ein ausgeprägtes Wir-Gefühl und grenzt sich von anderen gleichaltrigen stark ab — auch von deren Treffs. Diese Kneipen, insbesondere das VC, sind verpönt, obwohl sonst von einer relativ beschränkten Möglichkeit der Freizeitgestaltung erzählt wird. Die Abgrenzung ist gegenüber den Punks — die man damals in Aachen gar nicht übersehen konnte — am weitreichendsten.

F.: Warum trefft ihr euch denn ausgerechnet hier? Warum zum Beispiel nicht im VC, oder im Apfelbaum oder Leierkasten?

A.: Hier sind nur unsere Leute. Die kennen sich doch alle. Wenn du abends rausgehst, gehste ins "Ra". Jeder weiß von uns: wenn ich einen treffen will, dann kann der nur hier sein.

F.: …und das VC?

A.: is das nicht so’ne Punker-Kneipe?

F.: Und wenn?

A.: Nee danke, wo die Punks verkehren …

F.: Habt ihr was gegen Punks?

A.: Das sind doch alles so Schlägertypen, unheimlich brutal und immer auf Zoff aus, nix für mich …

ich bin auch nicht gerade scharf drauf, welche kennenzulernen. Die haben eben doch ganz andere Ansichten. Mir sind die auch viel zu brutal. Bei jeder Kleinigkeit drohen sie einem: Hey‚ willst wohl die Fresse poliert haben. Da steh’ ich absolut nicht drauf. Ich bin ein sehr friedliebender Mensch. Die sollen mich in Ruhe lassen und ich die.

F.: Und wie steht ihr zu den Punks?

A.: Ich glaub, das sind rein menschlich unheimlich arme Schweine. Wahrscheinlich haben die früher in ihrem Elternhaus zuwenig Liebe und Aufmerksamkeit bekommen, daß die heute so unheimlich brutal geworden sind. Man kann die nicht nur einfach verteufeln, nur weil die bunte Haare haben und anders aussehen wie wir. Früher haben die Leute lange Haare gehabt und alle haben sich aufgeregt, heute färben sie sich ihre Haare. Im Grunde genommen kein großer Unterschied. Die wollen vielleicht auch nur Aufmerksamkeit erregen.

B.: Die haben doch alle ein unheimliches Rad ab. Sich die Haare lila färbenl! Die brauchen sich nicht zu wundern über ihr "no future". Wenn ich Chef wäre, ich würde mir auch kein solches Schreckgespenst anstellen, kann man ja nirgendwo auf Montage schicken. Da fallen die Leute gleich tot um. Die brauchen sich gar nicht zu wundern, wenn sie keine Arbeit kriegen. Die spinnen meiner Meinung nach total. (Zeigt mit dem Finger den berühmtem "Vogel".) Und mit ihrer Brutalität ecken sie auch überall an.

F.: Kontakt habt ihr zu denen aber auch nicht, oder?

C.: Was heißt Kontakt? Man sieht sie ja überall. Geh mal hoch zum Marktplatz, da lungern sie dutzendweise rum.

W.: Wir wollen auch gar keinen Kontakt. Die leben in ihrer Welt und wir in unserer. Das paßt doch auch gar nicht zusammen. Die haben doch total andere Einstellungen als wir!

F.: Ihr sprecht immer von "wir" und "uns". Wieviele seid ihr denn?

D.: So zwischen 8 und 10 Leute, alle mit denselben Interessen. Wir arbeiten alle ungefähr dasselbe, haben dieselben Interessen und verbringen die Wochenenden zusammen.

F.: Immer im "Ra"?

D.: … die Leute hier haben hier fast alle dieselben Einstellungen. Klar sind die auch äußerlich bunt gemischt, aber sie kommen alle miteinander aus. Außerdem können wir immer noch in die Jugendgruppe in unserer Pfarre gehen. Da ist auch immer was los.

F.: Ist euch das denn nicht zu spießig?

D.: Klar, manchmal kapieren die einfach nicht, daß man nur hingeht, um andere Leute zu treffen. Der Kaplan meint, man müsse zwischendrin auch mal beten und meditieren. Das wollen die Leute einfach nicht. Das hat mich unheimlich Mühe gekostet, dem das beizubringen.

F.: Du meinst also, die Kirche wolle mit diesen Jugendtreffs vornehmlich Seelenkauf zukünftiger Kirchgänger betreiben?

D.: Hauptsächlich. Außerdem stellen sie sich wahnsinnig spießig an, wenn es um die Altersgrenze geht. Und das dauernde Meditieren geht den Leuten ganz schön an die Nerven.

F.: Und warum gehen sie sonst wohl hin?

W.: Was willste sonst denn machen? Die meisten Leute haben kein Moos, dauernd in die Kneipe oder in die Disco zu gehen.

Die Bedeutung von Musik ist hier eher untergeordnet. Die Jugendlichen hören, was grad "in" ist. Im Großen und Ganzen sind sie mit ihrem Leben zufrieden, haben zum "Protestieren" keinen Grund und interessieren sich nicht für gesellschaftliche und politische Zusammenhänge.

W.: Die meisten Leute interessieren sich nicht für Politik, weil sie genau wissen: mit meiner Stimme ändere ich überhaupt nichts. Ist doch logisch.

F.: Und eure Einstellung würde sich auch nicht ändern, wenn ihr zum Beispiel arbeitslos wärt?

W.: Das wird doch alles künstlich übertrieben. Die meisten Leute heute sind einfach zu faul zum arbeiten. Die sollen sich erst mal richtig ’n Job suchen gehen. Als ich ne Lehre gesucht hab, da bin ich jeden Morgen hin aufs Arbeitsamt und hab da auch was gekriegt. Is zwar nicht mein Traumberuf, aber wer sich auch richtig Mühe gibt, der kriegt auch’n Job, 100 prozentig!

Der Wirt, im Unterschied zu den bisher skizzierten Kneipen, ist "stillos". Er betreibt die Kneipe als "Job" mit dem Ziel, in einigen Jahren genügend Geld zu verdienen, um sich eine Praxis als Masseur und Bademeister einzurichten. Er verfolgt konsequent seine eigenen ökonomischen Zielsetzungen. Angesichts dessen, daß die Neue-Deutsche-Welle vorbei und das Publikum eh nicht so modisch ist, änderte er den Stil der Kneipe. Ihre Ausstattung entspricht jetzt, im Stil der typischen Bierverlagskneipe mit weißgekalkten Rauhputzwänden und Pferdegeschirren als Dekoration eher dem Geschmack des neuen Publikums.

Gespräch am 3.10.82 im ‚Ra‘ mit G, 17 und N, 17, Klassenkameradinnen der Berufsfachschule für Hauswirtschaft und Ernährung

W.: Und was treibt euch ausgerechnet ins ‚Ra‘?

G.: Och, wir sind erst zum zweiten Mal hier. Wenn ich rausgeh, dann will ich mit Leuten quatschen oder Leute treffen. Die meisten aus unserm Bekanntenkreis, die gehen sowieso dahin, wo auch unter der Woche was los ist. Außerdem können wir hier bis kurz vor 10 bleiben, da brauchen wir nicht lange nach Hause zu gehen. Außerdem hat mir mal einer erzählt, daß hier Sand aufm Fußboden liegt und das hat uns neugierig gemacht.

W.: Aber mit der Dekoration, verbindet ihr damit nichts?

G.: (achselzuckend) die ist mir irgendwie egal, da kann ich echt nichts mit anfangen. Is ’n bißchen bunt, aber warum auch nicht?!

W.: Seid ihr eigentlich mit dem Freizeitangebot in Aachen vollauf zufrieden?

G.: Nee, ist doch nichts los hier!

W.: Was würdet ihr euch denn wünschen?

G.: so’ne Art Teestube, wo man sitzen und klönen könnte, oder mit anderen Leuten Tischspiele machen könnte, sich unterhalten könnte. Am Boxgraben, da gibt’s ja sowas, aber das ist für uns einfach zu weit — wir müssen ja schon um 10 Uhr zu Hause sein!

W.: So strenge Eltern?!

G.: Meine Eltern sind geschieden. Ich wohn seid kleinauf bei meinen Großeltern und die sind unheimlich streng. Früher, da mußte ich schon um 9 Uhr zu Hause sein und wehe, wenns da mal 5 Minuten später wurde …

N.: Bei mir ist es auch nicht viel besser, ich wohn bei meiner Tante und da ist auch um 10 Uhr endgültig Sense.

W.: Da seid ihr ja sozusagen Leidensgenossinnen! Das bindet wahrscheinlich ungemein, teilt ihr auch sonst eure Interessen und Gemeinsamkeiten?

G.: Bis hin zum gemeinsamen Abhauen!! Wir wollten ja eigentlich jetzt in Griechenland sein, war schon alles geplant und wir standen mit Sack und Pack an der Autobahn und da läßt uns dieser Scheiß-Typ gestern morgen einfach sitzen!!

W.: Wie kamt ihr denn auf den Gedanken abzuhauen?

G.: Ich habs einfach zu Hause nicht mehr ausgehalten mit meinen Großeltern, ständig dieses: ‚Tu dies und laß das!‘ Dann die Schule mit dem ganzen Druck und die ganzen Ansprüche, die an einen gestellt werden: Jeden Tag derselbe Trott …

N.: Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das Leben nur aus Arbeit, Familie, Kinderkriegen besteht. Wir wollten das andere Leben einfach mal ausprobieren, einfach weg von hier.

W.: Hattet ihr euch das denn vorher genau überlegt von wegen Leben, Geld?

G.: Drei Tage vorher ist uns erst die Idee gekommen und dann … irgendwie wärs schon weitergegangen. Ich bin aber jetzt echt froh, daß wir nicht gefahren sind. Das war nur ne Knallidee, einfach wegzukommen. Auf Dauer hätten wir damit wahrscheinlich ziemlich Schiffbruch erlitten.

W.: Und jetzt ist wieder alles beim alten?

N.: Na ja, so ganz aufgegeben ist der Gedanke noch nicht. Man kann nie wissen, wenns mir mal wieder so richtig stinkt, dann hau ich eben doch noch in den Sack.

W.: So ganz widerspruchsfrei scheint ihr mir in der Beziehung aber nun doch nicht?! Habt ihr eure Zukunft denn irgendwie konkret geplant?

G.: An sich geplant … na kann man eigentlich nicht sagen, aber ich würd’ ganz gern Rechtsanwaltsgehilfin oder Arzthelferin oder sowas ähnliches werden.

N.: Wenn mit der Schule Sense ist, bemüh ich mich um ’ne Stelle als Krankenschwester. Da hat man wenigstens auch ’n bißchen mit anderen Leuten zu tun. Aber was bis dahin alles kommt … (winkt ab).

W.: Wieso, hast du denn Angst vor der Zukunft?

N.: Direkt Angst, kann man nicht sagen. Ich will nur nicht so angepaßt leben, wie die das alle früher oder später tun. So mit Familie, Kinderkriegen und brav Hausmütterchen spielen . . uahhh … um Gottes willen!!! Kann ich mir einfach nicht vorstellen, daß ich das bringe.

W.: Und was möchtest du ‚bringen‘?

N.: Auf jeden Fall nicht dieses scheiß-Leben.

W.: Was macht ihr denn sonst so, ich meine, wenn ihr nicht gerade hier sitzt?

G.: Och, meistens sitzen wir bei N., hören Musik und spinnen einfach so rum. Oder ich leg mich aufs Bett, höre Musik — aber nur meine ausgesuchten Lieblingsplatten, sonst nichts! — und versuch einfach abzuschalten. Manchmal gehn wir auch in den Park und sitzen stundenlang da auf ’ner Bank. Aber Musik muß einfach immer dabei sein, die find ich unheimlich wichtig. Wenn ich Steve Harley (Cockney Rebel) hör, da bin ich einfach total weg, aber nur die Live-Version. Kennste die. Die kann ich 10 mal hinter’nander hören!!!

W.: Die Platte ist aber schon mindestens 10 Jahre alt.

G.: Das is doch egal!! Darauf kommt’s doch gar nicht an.

W.: Und für neuere Musik interessiert ihr euch nicht, oder fehlt euch ganz einfach die Kohle zum Kaufen?

G.: Mit 100 Mark Taschengeld — da bleibt nicht viel! Klar, wenn ich meiner Mutter nach Berlin schreibe: Mutti, ich hätt‘ gern ’ne neue Jacke oder so, da schickt sie mir den Kies. Aber wenn du Schminke, Kneipe und was sonst noch so anfällt abziehst, da bleibt für Platten selten was übrig. Aber ich find den Harley auch so viel, viel besserl!

W.: Aber mit 100 Mark — da kannst du ja kaum die anfallenden Getränke im Monat bezahlen?!

N.: Oft lassen wir uns ja auch von irgend ’nem Typen einladen, oder wir trinken eben nichts!! Manchmal, da ist der Laden so voll, da fällt das gar nicht aufl!

"'Eine Kneipe muß hell sein. Die Leute sollen Fresse zeigen, sollen sich zeigen.'" ['Einblicke', S. 104]

„‚Eine Kneipe muß hell sein. Die Leute sollen Fresse zeigen, sollen sich zeigen.'“ [‚Einblicke‘, S. 104]

Zusammenfassende Thesen:

  • Besucher von Jugendkneipen sind weder schichtenspezifisch noch altersmäßig genau zu bestimmen.

  • Unterschiedliche subkulturelle Stile können sich widerspruchsfrei und freundschaftlich in einer Kneipe entwickeln und sich gegenseitig bestätigen.

  • Jugendkneipen stellen spezifische Territorien und Regenerationsräume dar für subkulturelle Gruppen (die "ein Rad abhaben") und für "normale"‚ "stillose" Gruppen.

  • Der "Stil" des Wirts bzw. seine "Stillosigkeit" bestimmt das Klima der Kneipe wesentlich, d. h. ob sie mehr subkulturelles Kommunikationszentrum oder kommerzielles Unternehmen ist.

  • Spielgeräte und Video-Fernsehen finden sich in fast jeder Kneipe, nur werden sie je nach "Stil" unterschiedlich gebraucht.

  • Auch Jugendkneipen fungieren als Teilmärkte für Waren wie Konzerte etc. Entkommerzialisierung durch öffentliche Förderung z. B. inklusive "Sozialarbeit am Tresen" könnten helfen, kreative Verarbeitungsmöglichkeiten von subkulturellem Konsum zu schaffen.

  • Mädchen machen auch in der Öffentlichkeit der Kneipen eine Minderheit aus. Jedoch treten sie immer häufiger allein in subkulturellen Kneipen auf, da in subkulturellen Lebenszusammenhängen die klassische bürgerliche Frauenrolle nicht gelebt wird.

  • Jugendliche in Kneipen sind oft sehr einsam und problemüberfrachtet. Als Interviewer ist man blitzschnell Ansprechpartner für sehr persönliche, intime Angelegenheiten.

  • Insgesamt: Jugendkneipen werden viel zu wenig in ihrer Funktion als sozialer Ort für Jugendliche beachtet — es sei denn von der Polizei und bösen Nachbarn.


  1. In den mittlerweile recht zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema Jugendkultur finden sich bislang nur sehr spärlich Hinweise über die Bedeutung von Jugendkneipen, geschweige denn Beschreibungen oder gar Analysen. Lediglich der SPIEGEL 17/82 bringt ein süffisant-ironisches feature über ‚Jugend 82‘ wo Bemerkungen über die "Kneipe als Bühne" fallen; H. J . Wirth schreibt in "Verweigerungswünsche" … "… ein nicht unbeträchtlicher Teil ‚konformistischer‘ Jugendlicher", die im Berufsleben stehen, aber in der Freizeit ausflippen, "müssen immer wieder in das anheizende Bad der Musikszene eintauchen, um sich zu regenerieren und für den stressigen Alltag wieder fit zu sein." In: Michael Haller (Hg.)‚ Aussteigen oder rebellieren. Jugendliche gegen Staat und Gesellschaft. Spiegel—Buch, Hamburg 198l, S. 228. Wir haben also das durchaus zweifelhafte Vergnügen, hier Pionierarbeit zu beginnen.

  2. Die Namen der Kneipen wurden geändert.

  3. Aus unseren Interviews.

  4. Vgl. das Kapitel "Punks in Aachen".

  5. Bezieht sich auf die Zeit des "Neue-Deutsche-Welle" Publikums.

  6. Discothek in Aachen.

4. Dezember 2013

Vincenzstraße, vor dem Abriss…

Filed under: Aachen in den 70ern, Politik — karl pach @ 9:16 am

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Der Expansion der Hochschule fiel 1970 leider, die abgebildete Häuserzeile zum Opfer. Die Straße wurde in Karmanstraße umbenannt.

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Die Scans habe ich dem Alma Mater Aquensis von 1971 entnommen.

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Zeitgemäß, der Hinweis auf Georg von Rauch im rechten oberen Bild. Die Bilder sind ein schönes Zeugnis der ersten Hausbesetzerwelle in Aachen. Dokumente über diese interessante Phase politischen Handelns sind leider rar, Infos und Zuwendungen zu dem Thema werden sehr gerne entgegengenommen (karlpach at web.de).

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